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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867.

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II. Abschnitt.
Das Sanitätswesen.
Begriff.

Unter dem Sanitätswesen verstehen wir nunmehr denjenigen
Theil des Gesundheitswesens, welcher die Gesammtheit der Bedingungen
für die Erhaltung der individuellen Gesundheit, so weit sie der Einzelne
sich nicht selber zu schaffen vermag, für die Gemeinschaft durch die voll-
ziehende Gewalt theils auf Grundlage von Gesetzen und Verordnungen,
theils durch eigene Anstalten herstellt.

Das Sanitätswesen ist demnach dasjenige Gebiet, in welchem der
Organismus des Gesundheitswesens mit vollziehender Gewalt
auftritt.

Das Sanitätswesen beginnt naturgemäß bei den Versuchen, wirk-
liche und dringende einzelne Gefahren von den öffentlichen Gesund-
heitszuständen abzuhalten, und erscheint daher stets zunächst als eigent-
liche Gesundheitspolizei. Die Gesundheitspolizei ihrerseits wendet
sich historisch zuerst gegen die allgemeine und greifbarste Gefahr der
Seuchen; dann geht sie über zum Schutze des Individuums gegen alle
denkbaren Einzelgefährdungen, die theils in den Nahrungsmitteln, theils
in dem Verkehrsinteresse liegen. Erst mit unserem Jahrhundert greift
die Erkenntniß Platz, daß der beste Schutz gegen die Gefahren der Ge-
sundheit in den allgemeinen Bedingungen gesunder Zustände der Bevöl-
kerung liegen. Namentlich wird klar, daß einerseits der Mangel an
kräftiger Gesundheit der niedern Klasse die öffentliche Last der Unter-
stützung derselben durch die höhere Klasse verdoppelt, und die Hebung
derselben daher durch das Interesse der letzteren immer positiver gefor-
dert wird; andererseits daß die Vernachlässigung der Gesundheitsbedin-
gungen bei den Nichtbesitzenden die ganze Klasse derselben zu einer
großen Krankheitsheerde auch für die Besitzenden macht. Dadurch ge-
winnt das Sanitätswesen mit unserem Jahrhundert neben seinem nega-
tiven, polizeilichen Inhalt einen positiven Charakter, und der leitende
Gedanke der Sanitätsverwaltung der Zukunft wird der sein, daß die
alte Sanitätspolizei als Schutz gegen einzelne Gefahren nur die
außerordentliche und temporäre, die neue positive Gesundheitspflege
dagegen die regelmäßige, langsam und unsichtbar, aber unwiderstehlich
wirkende Aufgabe der Gesundheitsverwaltung sein müsse. Hier ist es,
wo namentlich Chemie und Physik entscheidend eingreifen und ihren
Einfluß vom Gesichtspunkte der Gesundheitspflege über alle Theile der

II. Abſchnitt.
Das Sanitätsweſen.
Begriff.

Unter dem Sanitätsweſen verſtehen wir nunmehr denjenigen
Theil des Geſundheitsweſens, welcher die Geſammtheit der Bedingungen
für die Erhaltung der individuellen Geſundheit, ſo weit ſie der Einzelne
ſich nicht ſelber zu ſchaffen vermag, für die Gemeinſchaft durch die voll-
ziehende Gewalt theils auf Grundlage von Geſetzen und Verordnungen,
theils durch eigene Anſtalten herſtellt.

Das Sanitätsweſen iſt demnach dasjenige Gebiet, in welchem der
Organismus des Geſundheitsweſens mit vollziehender Gewalt
auftritt.

Das Sanitätsweſen beginnt naturgemäß bei den Verſuchen, wirk-
liche und dringende einzelne Gefahren von den öffentlichen Geſund-
heitszuſtänden abzuhalten, und erſcheint daher ſtets zunächſt als eigent-
liche Geſundheitspolizei. Die Geſundheitspolizei ihrerſeits wendet
ſich hiſtoriſch zuerſt gegen die allgemeine und greifbarſte Gefahr der
Seuchen; dann geht ſie über zum Schutze des Individuums gegen alle
denkbaren Einzelgefährdungen, die theils in den Nahrungsmitteln, theils
in dem Verkehrsintereſſe liegen. Erſt mit unſerem Jahrhundert greift
die Erkenntniß Platz, daß der beſte Schutz gegen die Gefahren der Ge-
ſundheit in den allgemeinen Bedingungen geſunder Zuſtände der Bevöl-
kerung liegen. Namentlich wird klar, daß einerſeits der Mangel an
kräftiger Geſundheit der niedern Klaſſe die öffentliche Laſt der Unter-
ſtützung derſelben durch die höhere Klaſſe verdoppelt, und die Hebung
derſelben daher durch das Intereſſe der letzteren immer poſitiver gefor-
dert wird; andererſeits daß die Vernachläſſigung der Geſundheitsbedin-
gungen bei den Nichtbeſitzenden die ganze Klaſſe derſelben zu einer
großen Krankheitsheerde auch für die Beſitzenden macht. Dadurch ge-
winnt das Sanitätsweſen mit unſerem Jahrhundert neben ſeinem nega-
tiven, polizeilichen Inhalt einen poſitiven Charakter, und der leitende
Gedanke der Sanitätsverwaltung der Zukunft wird der ſein, daß die
alte Sanitätspolizei als Schutz gegen einzelne Gefahren nur die
außerordentliche und temporäre, die neue poſitive Geſundheitspflege
dagegen die regelmäßige, langſam und unſichtbar, aber unwiderſtehlich
wirkende Aufgabe der Geſundheitsverwaltung ſein müſſe. Hier iſt es,
wo namentlich Chemie und Phyſik entſcheidend eingreifen und ihren
Einfluß vom Geſichtspunkte der Geſundheitspflege über alle Theile der

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[40/0056] II. Abſchnitt. Das Sanitätsweſen. Begriff. Unter dem Sanitätsweſen verſtehen wir nunmehr denjenigen Theil des Geſundheitsweſens, welcher die Geſammtheit der Bedingungen für die Erhaltung der individuellen Geſundheit, ſo weit ſie der Einzelne ſich nicht ſelber zu ſchaffen vermag, für die Gemeinſchaft durch die voll- ziehende Gewalt theils auf Grundlage von Geſetzen und Verordnungen, theils durch eigene Anſtalten herſtellt. Das Sanitätsweſen iſt demnach dasjenige Gebiet, in welchem der Organismus des Geſundheitsweſens mit vollziehender Gewalt auftritt. Das Sanitätsweſen beginnt naturgemäß bei den Verſuchen, wirk- liche und dringende einzelne Gefahren von den öffentlichen Geſund- heitszuſtänden abzuhalten, und erſcheint daher ſtets zunächſt als eigent- liche Geſundheitspolizei. Die Geſundheitspolizei ihrerſeits wendet ſich hiſtoriſch zuerſt gegen die allgemeine und greifbarſte Gefahr der Seuchen; dann geht ſie über zum Schutze des Individuums gegen alle denkbaren Einzelgefährdungen, die theils in den Nahrungsmitteln, theils in dem Verkehrsintereſſe liegen. Erſt mit unſerem Jahrhundert greift die Erkenntniß Platz, daß der beſte Schutz gegen die Gefahren der Ge- ſundheit in den allgemeinen Bedingungen geſunder Zuſtände der Bevöl- kerung liegen. Namentlich wird klar, daß einerſeits der Mangel an kräftiger Geſundheit der niedern Klaſſe die öffentliche Laſt der Unter- ſtützung derſelben durch die höhere Klaſſe verdoppelt, und die Hebung derſelben daher durch das Intereſſe der letzteren immer poſitiver gefor- dert wird; andererſeits daß die Vernachläſſigung der Geſundheitsbedin- gungen bei den Nichtbeſitzenden die ganze Klaſſe derſelben zu einer großen Krankheitsheerde auch für die Beſitzenden macht. Dadurch ge- winnt das Sanitätsweſen mit unſerem Jahrhundert neben ſeinem nega- tiven, polizeilichen Inhalt einen poſitiven Charakter, und der leitende Gedanke der Sanitätsverwaltung der Zukunft wird der ſein, daß die alte Sanitätspolizei als Schutz gegen einzelne Gefahren nur die außerordentliche und temporäre, die neue poſitive Geſundheitspflege dagegen die regelmäßige, langſam und unſichtbar, aber unwiderſtehlich wirkende Aufgabe der Geſundheitsverwaltung ſein müſſe. Hier iſt es, wo namentlich Chemie und Phyſik entſcheidend eingreifen und ihren Einfluß vom Geſichtspunkte der Geſundheitspflege über alle Theile der

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre03_1867/56>, abgerufen am 28.03.2024.