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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867.

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Jeder Staat daher, der ein innerlich noch lebendiger ist, trägt den
Keim dieses Widerspruches in sich, der eine höhere Sicherheitspolizei im
Namen des Bestehenden fordert und thätig macht, während er zugleich
dieselbe im Namen des Werdenden bekämpft und als den Feind des
freiheitlichen Fortschrittes verurtheilt. Das ist der Grund aller Miß-
verständnisse über das Wesen der höheren Sicherheitspolizei.

Allein die gesunde Ordnung des Staatslebens hat ein Mittel,
diesen Widerspruch zu lösen. Sie setzt grundsätzlich die Möglichkeit
einer Aenderung des Bestehenden, aber zu gleicher Zeit bestimmt sie
die gesetzlichen Formen, in denen dieselbe geschehen muß. Durch das
erste wird dem Bedürfniß der Entwicklung genügt; durch das zweite
wird jede ungesetzliche Form derselben statt zu einer Gefahr vielmehr
zu einem Verbrechen. Die gesetzlichen Reformbewegungen gehören daher
in solchen Staaten in die Verfassung, die ungesetzlichen in das Straf-
recht. Alle Formen der Bestrebungen sind hier frei, so lange sie
nicht strafbar sind
. Die höhere Sicherheitspolizei hat hier daher
nicht den Schutz der Verfassung, sondern nur noch den der öffentlichen
Ordnung zur Aufgabe. Sie hat nicht zu kämpfen mit den politischen
Ansichten, Bestrebungen und Aeußerungen an sich, sondern nur mit
der That, welche äußerlich die bestehende Rechtsordnung angreift.
Das Element der Verfassungspolizei ist in ihr nicht vorhanden,
sondern sie ist bloß Ordnungspolizei; die Verfassung kennt keine Ge-
fahren, sondern nur Verbrechen, und nicht die Polizei, sondern nur
die Gerichte halten dieselben aufrecht.

Wo nun aber das öffentliche Recht die Reform grundsätzlich überhaupt
nicht zuläßt, oder doch die Theilnahme der verfassungsbildenden Elemente
des Volkslebens davon ausschließt, da beginnt die höhere Sicherheits-
polizei ihre seit einigen Jahrhunderten so sehr ausgebildete und ziem-
lich bestrittene Aufgabe. Sie muß, da eine solche Bewegung mit den
bestehenden Rechtsgrundsätzen in formellen Widerspruch tritt, dieselbe
auch bekämpfen. Je tiefer nun die geltende Verfassung unter den Forde-
rungen der gesellschaftlichen Entwicklung steht, um so lauter wird das
Bestreben nach Reform, um so schwieriger und ernster die Aufgabe
der höheren Sicherheitspolizei. Daher kommt es denn, daß die höhere
Sicherheitspolizei stets im umgekehrten Verhältniß zur freien Entwick-
lungsfähigkeit der Verfassung steht. Je zweckmäßiger die letztere, desto
unnöthiger die erstere; je unfreier jene, desto nothwendiger und aus-
gebildeter diese. Und es folgt aus demselben Grunde, daß da, wo die
bestehende Verfassung durch das grundsätzliche Ausschließen aller Reform
Gegenstand gewaltsamer Angriffe zu werden droht, die höhere Sicher-
heitspolizei sich auch mehr mit materiellen Mitteln umgibt, und da, wo

Jeder Staat daher, der ein innerlich noch lebendiger iſt, trägt den
Keim dieſes Widerſpruches in ſich, der eine höhere Sicherheitspolizei im
Namen des Beſtehenden fordert und thätig macht, während er zugleich
dieſelbe im Namen des Werdenden bekämpft und als den Feind des
freiheitlichen Fortſchrittes verurtheilt. Das iſt der Grund aller Miß-
verſtändniſſe über das Weſen der höheren Sicherheitspolizei.

Allein die geſunde Ordnung des Staatslebens hat ein Mittel,
dieſen Widerſpruch zu löſen. Sie ſetzt grundſätzlich die Möglichkeit
einer Aenderung des Beſtehenden, aber zu gleicher Zeit beſtimmt ſie
die geſetzlichen Formen, in denen dieſelbe geſchehen muß. Durch das
erſte wird dem Bedürfniß der Entwicklung genügt; durch das zweite
wird jede ungeſetzliche Form derſelben ſtatt zu einer Gefahr vielmehr
zu einem Verbrechen. Die geſetzlichen Reformbewegungen gehören daher
in ſolchen Staaten in die Verfaſſung, die ungeſetzlichen in das Straf-
recht. Alle Formen der Beſtrebungen ſind hier frei, ſo lange ſie
nicht ſtrafbar ſind
. Die höhere Sicherheitspolizei hat hier daher
nicht den Schutz der Verfaſſung, ſondern nur noch den der öffentlichen
Ordnung zur Aufgabe. Sie hat nicht zu kämpfen mit den politiſchen
Anſichten, Beſtrebungen und Aeußerungen an ſich, ſondern nur mit
der That, welche äußerlich die beſtehende Rechtsordnung angreift.
Das Element der Verfaſſungspolizei iſt in ihr nicht vorhanden,
ſondern ſie iſt bloß Ordnungspolizei; die Verfaſſung kennt keine Ge-
fahren, ſondern nur Verbrechen, und nicht die Polizei, ſondern nur
die Gerichte halten dieſelben aufrecht.

Wo nun aber das öffentliche Recht die Reform grundſätzlich überhaupt
nicht zuläßt, oder doch die Theilnahme der verfaſſungsbildenden Elemente
des Volkslebens davon ausſchließt, da beginnt die höhere Sicherheits-
polizei ihre ſeit einigen Jahrhunderten ſo ſehr ausgebildete und ziem-
lich beſtrittene Aufgabe. Sie muß, da eine ſolche Bewegung mit den
beſtehenden Rechtsgrundſätzen in formellen Widerſpruch tritt, dieſelbe
auch bekämpfen. Je tiefer nun die geltende Verfaſſung unter den Forde-
rungen der geſellſchaftlichen Entwicklung ſteht, um ſo lauter wird das
Beſtreben nach Reform, um ſo ſchwieriger und ernſter die Aufgabe
der höheren Sicherheitspolizei. Daher kommt es denn, daß die höhere
Sicherheitspolizei ſtets im umgekehrten Verhältniß zur freien Entwick-
lungsfähigkeit der Verfaſſung ſteht. Je zweckmäßiger die letztere, deſto
unnöthiger die erſtere; je unfreier jene, deſto nothwendiger und aus-
gebildeter dieſe. Und es folgt aus demſelben Grunde, daß da, wo die
beſtehende Verfaſſung durch das grundſätzliche Ausſchließen aller Reform
Gegenſtand gewaltſamer Angriffe zu werden droht, die höhere Sicher-
heitspolizei ſich auch mehr mit materiellen Mitteln umgibt, und da, wo

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[93/0115] Jeder Staat daher, der ein innerlich noch lebendiger iſt, trägt den Keim dieſes Widerſpruches in ſich, der eine höhere Sicherheitspolizei im Namen des Beſtehenden fordert und thätig macht, während er zugleich dieſelbe im Namen des Werdenden bekämpft und als den Feind des freiheitlichen Fortſchrittes verurtheilt. Das iſt der Grund aller Miß- verſtändniſſe über das Weſen der höheren Sicherheitspolizei. Allein die geſunde Ordnung des Staatslebens hat ein Mittel, dieſen Widerſpruch zu löſen. Sie ſetzt grundſätzlich die Möglichkeit einer Aenderung des Beſtehenden, aber zu gleicher Zeit beſtimmt ſie die geſetzlichen Formen, in denen dieſelbe geſchehen muß. Durch das erſte wird dem Bedürfniß der Entwicklung genügt; durch das zweite wird jede ungeſetzliche Form derſelben ſtatt zu einer Gefahr vielmehr zu einem Verbrechen. Die geſetzlichen Reformbewegungen gehören daher in ſolchen Staaten in die Verfaſſung, die ungeſetzlichen in das Straf- recht. Alle Formen der Beſtrebungen ſind hier frei, ſo lange ſie nicht ſtrafbar ſind. Die höhere Sicherheitspolizei hat hier daher nicht den Schutz der Verfaſſung, ſondern nur noch den der öffentlichen Ordnung zur Aufgabe. Sie hat nicht zu kämpfen mit den politiſchen Anſichten, Beſtrebungen und Aeußerungen an ſich, ſondern nur mit der That, welche äußerlich die beſtehende Rechtsordnung angreift. Das Element der Verfaſſungspolizei iſt in ihr nicht vorhanden, ſondern ſie iſt bloß Ordnungspolizei; die Verfaſſung kennt keine Ge- fahren, ſondern nur Verbrechen, und nicht die Polizei, ſondern nur die Gerichte halten dieſelben aufrecht. Wo nun aber das öffentliche Recht die Reform grundſätzlich überhaupt nicht zuläßt, oder doch die Theilnahme der verfaſſungsbildenden Elemente des Volkslebens davon ausſchließt, da beginnt die höhere Sicherheits- polizei ihre ſeit einigen Jahrhunderten ſo ſehr ausgebildete und ziem- lich beſtrittene Aufgabe. Sie muß, da eine ſolche Bewegung mit den beſtehenden Rechtsgrundſätzen in formellen Widerſpruch tritt, dieſelbe auch bekämpfen. Je tiefer nun die geltende Verfaſſung unter den Forde- rungen der geſellſchaftlichen Entwicklung ſteht, um ſo lauter wird das Beſtreben nach Reform, um ſo ſchwieriger und ernſter die Aufgabe der höheren Sicherheitspolizei. Daher kommt es denn, daß die höhere Sicherheitspolizei ſtets im umgekehrten Verhältniß zur freien Entwick- lungsfähigkeit der Verfaſſung ſteht. Je zweckmäßiger die letztere, deſto unnöthiger die erſtere; je unfreier jene, deſto nothwendiger und aus- gebildeter dieſe. Und es folgt aus demſelben Grunde, daß da, wo die beſtehende Verfaſſung durch das grundſätzliche Ausſchließen aller Reform Gegenſtand gewaltſamer Angriffe zu werden droht, die höhere Sicher- heitspolizei ſich auch mehr mit materiellen Mitteln umgibt, und da, wo

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre04_1867/115>, abgerufen am 25.04.2024.