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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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Erst in der neuesten Zeit ist nun die Hauptfrage des französischen
Unterrichtswesens, die Frage nach der Schulpflicht wieder aufge-
nommen, und die Diskussion hat wesentlich die Formen und den Cha-
rakter der Gegensätze zwischen dem voluntary und obligatory system
angenommen. Der Ausgangspunkt war schon seit der Constitution vom
3. September 1791 (Art. 17) die Frage, ob der Elementarschulbesuch
unentgeltlich sein solle. "Cette egalite, profitable aux riches, aurait
pour objet d'effacer toute distinction entre les enfants et de leur
apprendre l'egalite des l'age le plus tendre." Batbie, Traite de
droit publique et administratif, Tom. III. p.
227. Daher hatte die
Constitution vom 19. Juni 1793 die Eltern unter strenger Buße
verpflichtet, ihre Kinder ohne Unterschied drei Jahre lang in die
öffentliche Schule zu senden (Art. 6. 8. 9). Von einer Durchführung
dieses Gesetzes konnte um so weniger die Rede sein, als diese Schulen
eben nicht allenthalben bestanden. Man ließ daher das Princip auf
sich beruhen. Guizot sah den richtigen Weg, indem er damit begann,
die Selbstverwaltung an die Spitze der Schule zu stellen durch das
treffliche Gesetz von 1833. Das Gesetz vom 15. März 1850 sagt aus-
weichend (Art. 24): "L'enseignement primaire est donne gratuite-
ment a tous les enfants, dont les familles sont hors d'etat de le
payer."
Zur Entscheidung kann die Sache nicht gelangen, so lange
die Elementarschulen selbst so unfrei bleiben, wie sie das gegenwärtige
Regime gemacht hat (s. unten Schulrecht).

6) Die französischen Nachbildungen im Volksschulwesen
von Belgien, Italien und der Schweiz
.

Wir schließen unmittelbar an die Darstellung Frankreichs die
Darstellung der französischen Nachbildungen an, die im Grunde nichts
weiter sind, als die einfache Uebertragung der französischen Grundformen
auf das Schulwesen dieser Länder, jedoch mit kleinen Modifikationen,
welche aus den Eigenthümlichkeiten der betreffenden Länder hervorgehen.
Dahin rechnen wir Belgien, Italien und die französischen Kantone der
Schweiz.

Was zunächst Belgien betrifft, so haben wir schon oben auf das
Grundgesetz seines Volksschulwesens von 1842 hingewiesen; die Grund-
züge sind formell und materiell die französischen. Die Ecoles primaires
sind von der Instruction secondaire geschieden. Jede Gemeinde soll
eine Volksschule haben; jedoch zeigt sich hier der eigentliche Charakter
des Unterschiedes darin, daß die Gemeindeschule nicht als ein staat-
liches Institut, sondern als eine subsidiäre Anstalt aufgefaßt wird.

Erſt in der neueſten Zeit iſt nun die Hauptfrage des franzöſiſchen
Unterrichtsweſens, die Frage nach der Schulpflicht wieder aufge-
nommen, und die Diskuſſion hat weſentlich die Formen und den Cha-
rakter der Gegenſätze zwiſchen dem voluntary und obligatory system
angenommen. Der Ausgangspunkt war ſchon ſeit der Conſtitution vom
3. September 1791 (Art. 17) die Frage, ob der Elementarſchulbeſuch
unentgeltlich ſein ſolle. „Cette égalité, profitable aux riches, aurait
pour objet d’effacer toute distinction entre les enfants et de leur
apprendre l’égalité dès l’age le plus tendre.“ Batbie, Traité de
droit publique et administratif, Tom. III. p.
227. Daher hatte die
Conſtitution vom 19. Juni 1793 die Eltern unter ſtrenger Buße
verpflichtet, ihre Kinder ohne Unterſchied drei Jahre lang in die
öffentliche Schule zu ſenden (Art. 6. 8. 9). Von einer Durchführung
dieſes Geſetzes konnte um ſo weniger die Rede ſein, als dieſe Schulen
eben nicht allenthalben beſtanden. Man ließ daher das Princip auf
ſich beruhen. Guizot ſah den richtigen Weg, indem er damit begann,
die Selbſtverwaltung an die Spitze der Schule zu ſtellen durch das
treffliche Geſetz von 1833. Das Geſetz vom 15. März 1850 ſagt aus-
weichend (Art. 24): „L’enseignement primaire est donné gratuite-
ment à tous les enfants, dont les familles sont hors d’état de le
payer.“
Zur Entſcheidung kann die Sache nicht gelangen, ſo lange
die Elementarſchulen ſelbſt ſo unfrei bleiben, wie ſie das gegenwärtige
Regime gemacht hat (ſ. unten Schulrecht).

6) Die franzöſiſchen Nachbildungen im Volksſchulweſen
von Belgien, Italien und der Schweiz
.

Wir ſchließen unmittelbar an die Darſtellung Frankreichs die
Darſtellung der franzöſiſchen Nachbildungen an, die im Grunde nichts
weiter ſind, als die einfache Uebertragung der franzöſiſchen Grundformen
auf das Schulweſen dieſer Länder, jedoch mit kleinen Modifikationen,
welche aus den Eigenthümlichkeiten der betreffenden Länder hervorgehen.
Dahin rechnen wir Belgien, Italien und die franzöſiſchen Kantone der
Schweiz.

Was zunächſt Belgien betrifft, ſo haben wir ſchon oben auf das
Grundgeſetz ſeines Volksſchulweſens von 1842 hingewieſen; die Grund-
züge ſind formell und materiell die franzöſiſchen. Die Écoles primaires
ſind von der Instruction secondaire geſchieden. Jede Gemeinde ſoll
eine Volksſchule haben; jedoch zeigt ſich hier der eigentliche Charakter
des Unterſchiedes darin, daß die Gemeindeſchule nicht als ein ſtaat-
liches Inſtitut, ſondern als eine ſubſidiäre Anſtalt aufgefaßt wird.

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[109/0137] Erſt in der neueſten Zeit iſt nun die Hauptfrage des franzöſiſchen Unterrichtsweſens, die Frage nach der Schulpflicht wieder aufge- nommen, und die Diskuſſion hat weſentlich die Formen und den Cha- rakter der Gegenſätze zwiſchen dem voluntary und obligatory system angenommen. Der Ausgangspunkt war ſchon ſeit der Conſtitution vom 3. September 1791 (Art. 17) die Frage, ob der Elementarſchulbeſuch unentgeltlich ſein ſolle. „Cette égalité, profitable aux riches, aurait pour objet d’effacer toute distinction entre les enfants et de leur apprendre l’égalité dès l’age le plus tendre.“ Batbie, Traité de droit publique et administratif, Tom. III. p. 227. Daher hatte die Conſtitution vom 19. Juni 1793 die Eltern unter ſtrenger Buße verpflichtet, ihre Kinder ohne Unterſchied drei Jahre lang in die öffentliche Schule zu ſenden (Art. 6. 8. 9). Von einer Durchführung dieſes Geſetzes konnte um ſo weniger die Rede ſein, als dieſe Schulen eben nicht allenthalben beſtanden. Man ließ daher das Princip auf ſich beruhen. Guizot ſah den richtigen Weg, indem er damit begann, die Selbſtverwaltung an die Spitze der Schule zu ſtellen durch das treffliche Geſetz von 1833. Das Geſetz vom 15. März 1850 ſagt aus- weichend (Art. 24): „L’enseignement primaire est donné gratuite- ment à tous les enfants, dont les familles sont hors d’état de le payer.“ Zur Entſcheidung kann die Sache nicht gelangen, ſo lange die Elementarſchulen ſelbſt ſo unfrei bleiben, wie ſie das gegenwärtige Regime gemacht hat (ſ. unten Schulrecht). 6) Die franzöſiſchen Nachbildungen im Volksſchulweſen von Belgien, Italien und der Schweiz. Wir ſchließen unmittelbar an die Darſtellung Frankreichs die Darſtellung der franzöſiſchen Nachbildungen an, die im Grunde nichts weiter ſind, als die einfache Uebertragung der franzöſiſchen Grundformen auf das Schulweſen dieſer Länder, jedoch mit kleinen Modifikationen, welche aus den Eigenthümlichkeiten der betreffenden Länder hervorgehen. Dahin rechnen wir Belgien, Italien und die franzöſiſchen Kantone der Schweiz. Was zunächſt Belgien betrifft, ſo haben wir ſchon oben auf das Grundgeſetz ſeines Volksſchulweſens von 1842 hingewieſen; die Grund- züge ſind formell und materiell die franzöſiſchen. Die Écoles primaires ſind von der Instruction secondaire geſchieden. Jede Gemeinde ſoll eine Volksſchule haben; jedoch zeigt ſich hier der eigentliche Charakter des Unterſchiedes darin, daß die Gemeindeſchule nicht als ein ſtaat- liches Inſtitut, ſondern als eine ſubſidiäre Anſtalt aufgefaßt wird.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/137>, abgerufen am 25.04.2024.