In der That nämlich kann die völlige Freiheit in der Berufs- bildung, wie sie England charakterisirt, nur unter einer Bedingung als ein, seine eigene Correction in sich selbst tragendes Princip anerkannt werden. Das ist die volle Oeffentlichkeit des gesammten geistigen Lebens, welches in seiner Presse und seinen Vereinen das Mittel hat, jeden ernstlichen Mangel der Bildung aufzudecken und zu rügen, und welche durch den Einfluß der öffentlichen Meinung den Einzelnen zwingt, das zu leisten, wozu ihn in Deutschland das formale Bildungssystem nöthigt. Es ist ferner die volle Freiheit und Thätigkeit der Volksver- tretung und der Selbstverwaltung, in welcher alle Gebildeten sich und das, was sie gelernt haben und wissen, zur öffentlichen Geltung bringen. Hier wird die Unfähigkeit und die Unkenntniß von selbst be- straft und die gewonnene Bildung findet ihren Lohn und ihre Aner- kennung ohne alles Zuthun einer Prüfung und eines Zeugnisses. In dem gewaltigen Ringen der besten geistigen Kräfte, welche uns diese großartigen Institutionen darbieten, tritt jeder Gebildete dem anderen persönlich gegenüber und findet das Maß seiner Bildung nicht mehr an einem gesetzlich vorgeschriebenen Minimum, sondern an dem Maße der selbstverarbeiteten Bildung der Anderen, und für die Wahrheit und Zulänglichkeit dessen, was er gelernt, muß er selbst eintreten und nicht mehr das Urtheil einer Prüfungscommission. Daher ist trotz alles Mangels des öffentlichen Bildungswesens Englands der Erfolg desselben ein so großer, daß die englische Literatur in allen Gebieten des Wissens der deutschen vollkommen ebenbürtig ist, während die Gelehrten Männer und nicht bloß Professoren sein müssen. Daher kommt die geistige Kraft dieses hochbegabten Volkes; und da liegt der Punkt, auf welchem die Beziehung auf Deutschlands Bildungswesen fast von selbst gegeben ist. Die große formale Strenge unserer Bildung für alle Berufe ist wesentlich ein Ergebniß unseres bisherigen Mangels an Oeffent- lichkeit, an Volksvertretung und Selbstverwaltung. Unser System hat uns die lebendige Einwirkung dieser gewaltigen Faktoren ersetzen sollen, aber natürlich nur halb ersetzt; und es ist kein Zweifel, daß, wenn bei uns jene drei Potenzen zu vollständiger Entwicklung gediehen sein werden, wir alsdann, die größere und gleichmäßigere Masse unseres Stoffes durch sie geistig und freiheitlich belebend, auch in dieser Beziehung den ersten Rang in Europa behalten werden.
Denn andererseits ist es kein Zweifel, daß bei dem grundsätzlichen und allgemeinen Zurückwerfen des Berufsbildungswesens auf das, was die gesellschaftlichen Kräfte leisten und bei der völligen Gleichgültig- keit des Staats gegen Inhalt, Form und Ergebniß desselben große Mängel und praktische Uebelstände entstehen. Die Freiheit kann viel,
In der That nämlich kann die völlige Freiheit in der Berufs- bildung, wie ſie England charakteriſirt, nur unter einer Bedingung als ein, ſeine eigene Correction in ſich ſelbſt tragendes Princip anerkannt werden. Das iſt die volle Oeffentlichkeit des geſammten geiſtigen Lebens, welches in ſeiner Preſſe und ſeinen Vereinen das Mittel hat, jeden ernſtlichen Mangel der Bildung aufzudecken und zu rügen, und welche durch den Einfluß der öffentlichen Meinung den Einzelnen zwingt, das zu leiſten, wozu ihn in Deutſchland das formale Bildungsſyſtem nöthigt. Es iſt ferner die volle Freiheit und Thätigkeit der Volksver- tretung und der Selbſtverwaltung, in welcher alle Gebildeten ſich und das, was ſie gelernt haben und wiſſen, zur öffentlichen Geltung bringen. Hier wird die Unfähigkeit und die Unkenntniß von ſelbſt be- ſtraft und die gewonnene Bildung findet ihren Lohn und ihre Aner- kennung ohne alles Zuthun einer Prüfung und eines Zeugniſſes. In dem gewaltigen Ringen der beſten geiſtigen Kräfte, welche uns dieſe großartigen Inſtitutionen darbieten, tritt jeder Gebildete dem anderen perſönlich gegenüber und findet das Maß ſeiner Bildung nicht mehr an einem geſetzlich vorgeſchriebenen Minimum, ſondern an dem Maße der ſelbſtverarbeiteten Bildung der Anderen, und für die Wahrheit und Zulänglichkeit deſſen, was er gelernt, muß er ſelbſt eintreten und nicht mehr das Urtheil einer Prüfungscommiſſion. Daher iſt trotz alles Mangels des öffentlichen Bildungsweſens Englands der Erfolg deſſelben ein ſo großer, daß die engliſche Literatur in allen Gebieten des Wiſſens der deutſchen vollkommen ebenbürtig iſt, während die Gelehrten Männer und nicht bloß Profeſſoren ſein müſſen. Daher kommt die geiſtige Kraft dieſes hochbegabten Volkes; und da liegt der Punkt, auf welchem die Beziehung auf Deutſchlands Bildungsweſen faſt von ſelbſt gegeben iſt. Die große formale Strenge unſerer Bildung für alle Berufe iſt weſentlich ein Ergebniß unſeres bisherigen Mangels an Oeffent- lichkeit, an Volksvertretung und Selbſtverwaltung. Unſer Syſtem hat uns die lebendige Einwirkung dieſer gewaltigen Faktoren erſetzen ſollen, aber natürlich nur halb erſetzt; und es iſt kein Zweifel, daß, wenn bei uns jene drei Potenzen zu vollſtändiger Entwicklung gediehen ſein werden, wir alsdann, die größere und gleichmäßigere Maſſe unſeres Stoffes durch ſie geiſtig und freiheitlich belebend, auch in dieſer Beziehung den erſten Rang in Europa behalten werden.
Denn andererſeits iſt es kein Zweifel, daß bei dem grundſätzlichen und allgemeinen Zurückwerfen des Berufsbildungsweſens auf das, was die geſellſchaftlichen Kräfte leiſten und bei der völligen Gleichgültig- keit des Staats gegen Inhalt, Form und Ergebniß deſſelben große Mängel und praktiſche Uebelſtände entſtehen. Die Freiheit kann viel,
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In der That nämlich kann die völlige Freiheit in der Berufs-
bildung, wie ſie England charakteriſirt, nur unter einer Bedingung als
ein, ſeine eigene Correction in ſich ſelbſt tragendes Princip anerkannt
werden. Das iſt die volle Oeffentlichkeit des geſammten geiſtigen
Lebens, welches in ſeiner Preſſe und ſeinen Vereinen das Mittel hat,
jeden ernſtlichen Mangel der Bildung aufzudecken und zu rügen, und
welche durch den Einfluß der öffentlichen Meinung den Einzelnen zwingt,
das zu leiſten, wozu ihn in Deutſchland das formale Bildungsſyſtem
nöthigt. Es iſt ferner die volle Freiheit und Thätigkeit der Volksver-
tretung und der Selbſtverwaltung, in welcher alle Gebildeten
ſich und das, was ſie gelernt haben und wiſſen, zur öffentlichen Geltung
bringen. Hier wird die Unfähigkeit und die Unkenntniß von ſelbſt be-
ſtraft und die gewonnene Bildung findet ihren Lohn und ihre Aner-
kennung ohne alles Zuthun einer Prüfung und eines Zeugniſſes. In
dem gewaltigen Ringen der beſten geiſtigen Kräfte, welche uns dieſe
großartigen Inſtitutionen darbieten, tritt jeder Gebildete dem anderen
perſönlich gegenüber und findet das Maß ſeiner Bildung nicht mehr
an einem geſetzlich vorgeſchriebenen Minimum, ſondern an dem Maße
der ſelbſtverarbeiteten Bildung der Anderen, und für die Wahrheit und
Zulänglichkeit deſſen, was er gelernt, muß er ſelbſt eintreten und nicht
mehr das Urtheil einer Prüfungscommiſſion. Daher iſt trotz alles
Mangels des öffentlichen Bildungsweſens Englands der Erfolg deſſelben
ein ſo großer, daß die engliſche Literatur in allen Gebieten des Wiſſens
der deutſchen vollkommen ebenbürtig iſt, während die Gelehrten Männer
und nicht bloß Profeſſoren ſein müſſen. Daher kommt die geiſtige
Kraft dieſes hochbegabten Volkes; und da liegt der Punkt, auf welchem
die Beziehung auf Deutſchlands Bildungsweſen faſt von ſelbſt gegeben
iſt. Die große formale Strenge unſerer Bildung für alle Berufe iſt
weſentlich ein Ergebniß unſeres bisherigen Mangels an Oeffent-
lichkeit, an Volksvertretung und Selbſtverwaltung. Unſer
Syſtem hat uns die lebendige Einwirkung dieſer gewaltigen Faktoren
erſetzen ſollen, aber natürlich nur halb erſetzt; und es iſt kein Zweifel,
daß, wenn bei uns jene drei Potenzen zu vollſtändiger Entwicklung
gediehen ſein werden, wir alsdann, die größere und gleichmäßigere
Maſſe unſeres Stoffes durch ſie geiſtig und freiheitlich belebend, auch
in dieſer Beziehung den erſten Rang in Europa behalten werden.
Denn andererſeits iſt es kein Zweifel, daß bei dem grundſätzlichen
und allgemeinen Zurückwerfen des Berufsbildungsweſens auf das, was
die geſellſchaftlichen Kräfte leiſten und bei der völligen Gleichgültig-
keit des Staats gegen Inhalt, Form und Ergebniß deſſelben große
Mängel und praktiſche Uebelſtände entſtehen. Die Freiheit kann viel,
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/351>, abgerufen am 28.03.2024.
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