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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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dasselbe darin, daß sie selbst niemals die eigentliche Initiative der Be-
freiung gehabt, sondern sie den Regierungen überlassen hat; daß sie
jedoch einerseits in ihrer juristischen Seite den letzteren den Rechtstitel
der Entwährung überhaupt für die Rechte der Grundherren gegeben,
und ihr dafür das Princip der Entschädigung zur Geltung gebracht
hat, wobei sie mit großer Gründlichkeit die einzelnen Verhältnisse der
Unfreiheit namentlich bei Frohnden und Zehnten historisch untersucht,
aber das Princip für den Punkt, wo die Gränze der Entschädigung
zu beginnen habe, weder gesucht noch gefunden hat; während die
volkswirthschaftliche Seite die ökonomische Nothwendigkeit der Ent-
lastung und das System der Entschädigung nachweist. Es ist klar,
daß diese Literatur -- der bloß abstrakte Geist des deutschen Volkes
-- eben so wenig fähig war, die Unfreiheit der Geschlechterordnung
zu beseitigen, wie die bloßen Elemente der letzteren selbst. Nach wie
vor ist es der Staat, der hier die Entscheidung gebracht. Wir müssen
daher dieß Verhältniß jetzt für sich darstellen, und in seiner Geschichte
wird die gegenwärtig geltende Grundentlastungsgesetzgebung in ihrer
wahren Stellung erscheinen.

VI. Die wirkliche Entlastung durch Gesetzgebung und Verwaltung des Staats.

Wenn es nun einen Theil der Geschichte des inneren Lebens des
Volkes gibt, in welchem die specifische Bedeutung und Wirksamkeit
des Staats am meisten in den Vordergrund tritt, so ist es ohne Zweifel
die große Arbeit der Herstellung der Freiheit der niederen Klasse, eine
Arbeit, in der die großen Elemente des Gesammtlebens, namentlich
aber der tiefe Gegensatz, der zwischen Staat und Gesellschaft besteht,
am schlagendsten zum Ausdruck kommt.

Der dreißigjährige Krieg hatte den Rest des einheitlichen staat-
lichen Lebens vernichtet; mit seinem Verschwinden trat, nach den
Gesetzen, welche das Verhältniß zwischen Staat und Gesellschaft
regeln, die Herrschaft des Sonderinteresses der herrschenden Geschlechter-
klasse rücksichtslos in den Vordergrund, und die Unfreiheit des Bauern-
standes beginnt mit der Kaiserlosigkeit. Jenem eigenthümlichen, groß-
artigen Lebensproceß der menschlichen Gemeinschaft, der in der leben-
digen geistigen Stimmung zwischen dem Geist und dem Gefühle des
Volkes und dem individuellen Willen und Erkennen des Staats be-
steht, und aus dem die mächtigsten Erscheinungen hervorgehen, fehlte
der eine Faktor, der Staat. Keine Wissenschaft war und ist je im
Stande, das zu ersetzen; kein Unglück groß genug, um ohne denselben
Hülfe zu finden. So wie aber die Staatenbildung mit ihrer regierenden

daſſelbe darin, daß ſie ſelbſt niemals die eigentliche Initiative der Be-
freiung gehabt, ſondern ſie den Regierungen überlaſſen hat; daß ſie
jedoch einerſeits in ihrer juriſtiſchen Seite den letzteren den Rechtstitel
der Entwährung überhaupt für die Rechte der Grundherren gegeben,
und ihr dafür das Princip der Entſchädigung zur Geltung gebracht
hat, wobei ſie mit großer Gründlichkeit die einzelnen Verhältniſſe der
Unfreiheit namentlich bei Frohnden und Zehnten hiſtoriſch unterſucht,
aber das Princip für den Punkt, wo die Gränze der Entſchädigung
zu beginnen habe, weder geſucht noch gefunden hat; während die
volkswirthſchaftliche Seite die ökonomiſche Nothwendigkeit der Ent-
laſtung und das Syſtem der Entſchädigung nachweist. Es iſt klar,
daß dieſe Literatur — der bloß abſtrakte Geiſt des deutſchen Volkes
— eben ſo wenig fähig war, die Unfreiheit der Geſchlechterordnung
zu beſeitigen, wie die bloßen Elemente der letzteren ſelbſt. Nach wie
vor iſt es der Staat, der hier die Entſcheidung gebracht. Wir müſſen
daher dieß Verhältniß jetzt für ſich darſtellen, und in ſeiner Geſchichte
wird die gegenwärtig geltende Grundentlaſtungsgeſetzgebung in ihrer
wahren Stellung erſcheinen.

VI. Die wirkliche Entlaſtung durch Geſetzgebung und Verwaltung des Staats.

Wenn es nun einen Theil der Geſchichte des inneren Lebens des
Volkes gibt, in welchem die ſpecifiſche Bedeutung und Wirkſamkeit
des Staats am meiſten in den Vordergrund tritt, ſo iſt es ohne Zweifel
die große Arbeit der Herſtellung der Freiheit der niederen Klaſſe, eine
Arbeit, in der die großen Elemente des Geſammtlebens, namentlich
aber der tiefe Gegenſatz, der zwiſchen Staat und Geſellſchaft beſteht,
am ſchlagendſten zum Ausdruck kommt.

Der dreißigjährige Krieg hatte den Reſt des einheitlichen ſtaat-
lichen Lebens vernichtet; mit ſeinem Verſchwinden trat, nach den
Geſetzen, welche das Verhältniß zwiſchen Staat und Geſellſchaft
regeln, die Herrſchaft des Sonderintereſſes der herrſchenden Geſchlechter-
klaſſe rückſichtslos in den Vordergrund, und die Unfreiheit des Bauern-
ſtandes beginnt mit der Kaiſerloſigkeit. Jenem eigenthümlichen, groß-
artigen Lebensproceß der menſchlichen Gemeinſchaft, der in der leben-
digen geiſtigen Stimmung zwiſchen dem Geiſt und dem Gefühle des
Volkes und dem individuellen Willen und Erkennen des Staats be-
ſteht, und aus dem die mächtigſten Erſcheinungen hervorgehen, fehlte
der eine Faktor, der Staat. Keine Wiſſenſchaft war und iſt je im
Stande, das zu erſetzen; kein Unglück groß genug, um ohne denſelben
Hülfe zu finden. So wie aber die Staatenbildung mit ihrer regierenden

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[191/0209] daſſelbe darin, daß ſie ſelbſt niemals die eigentliche Initiative der Be- freiung gehabt, ſondern ſie den Regierungen überlaſſen hat; daß ſie jedoch einerſeits in ihrer juriſtiſchen Seite den letzteren den Rechtstitel der Entwährung überhaupt für die Rechte der Grundherren gegeben, und ihr dafür das Princip der Entſchädigung zur Geltung gebracht hat, wobei ſie mit großer Gründlichkeit die einzelnen Verhältniſſe der Unfreiheit namentlich bei Frohnden und Zehnten hiſtoriſch unterſucht, aber das Princip für den Punkt, wo die Gränze der Entſchädigung zu beginnen habe, weder geſucht noch gefunden hat; während die volkswirthſchaftliche Seite die ökonomiſche Nothwendigkeit der Ent- laſtung und das Syſtem der Entſchädigung nachweist. Es iſt klar, daß dieſe Literatur — der bloß abſtrakte Geiſt des deutſchen Volkes — eben ſo wenig fähig war, die Unfreiheit der Geſchlechterordnung zu beſeitigen, wie die bloßen Elemente der letzteren ſelbſt. Nach wie vor iſt es der Staat, der hier die Entſcheidung gebracht. Wir müſſen daher dieß Verhältniß jetzt für ſich darſtellen, und in ſeiner Geſchichte wird die gegenwärtig geltende Grundentlaſtungsgeſetzgebung in ihrer wahren Stellung erſcheinen. VI. Die wirkliche Entlaſtung durch Geſetzgebung und Verwaltung des Staats. Wenn es nun einen Theil der Geſchichte des inneren Lebens des Volkes gibt, in welchem die ſpecifiſche Bedeutung und Wirkſamkeit des Staats am meiſten in den Vordergrund tritt, ſo iſt es ohne Zweifel die große Arbeit der Herſtellung der Freiheit der niederen Klaſſe, eine Arbeit, in der die großen Elemente des Geſammtlebens, namentlich aber der tiefe Gegenſatz, der zwiſchen Staat und Geſellſchaft beſteht, am ſchlagendſten zum Ausdruck kommt. Der dreißigjährige Krieg hatte den Reſt des einheitlichen ſtaat- lichen Lebens vernichtet; mit ſeinem Verſchwinden trat, nach den Geſetzen, welche das Verhältniß zwiſchen Staat und Geſellſchaft regeln, die Herrſchaft des Sonderintereſſes der herrſchenden Geſchlechter- klaſſe rückſichtslos in den Vordergrund, und die Unfreiheit des Bauern- ſtandes beginnt mit der Kaiſerloſigkeit. Jenem eigenthümlichen, groß- artigen Lebensproceß der menſchlichen Gemeinſchaft, der in der leben- digen geiſtigen Stimmung zwiſchen dem Geiſt und dem Gefühle des Volkes und dem individuellen Willen und Erkennen des Staats be- ſteht, und aus dem die mächtigſten Erſcheinungen hervorgehen, fehlte der eine Faktor, der Staat. Keine Wiſſenſchaft war und iſt je im Stande, das zu erſetzen; kein Unglück groß genug, um ohne denſelben Hülfe zu finden. So wie aber die Staatenbildung mit ihrer regierenden

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/209>, abgerufen am 19.04.2024.