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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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verordnenden Organe, aber nicht vor dem Gericht, sondern vor der
gesetzgebenden Gewalt, welche über solche Verordnungen und ihre Dauer
entscheidet. Die ganze Frage gehört demnach in die Lehre von der
vollziehenden Gewalt (wo sie neben andern in zweiter Auflage ihren
Platz finden wird).

Das Staatsnothrecht dagegen im engern Sinne ist nichts
anderes, als diejenige Anwendung des Enteignungsrechts, bei der die
plötzliche Gefährdung des Staats und seiner organischen Funktion das
Eintreten eines regelmäßigen Enteignungsverfahrens, möge dasselbe
nun sonst geordnet sein wie es will, nicht zuläßt, während alle
Grundsätze der Enteignung sowohl in Beziehung auf die Aufhebung
des Eigenthums am Gute als in Beziehung auf die Rückerstattung des
Werthes durch die Entschädigung, in voller Geltung bleiben.

Das oberste Rechtsprincip alles Staatsnothrechts ergibt sich damit
dahin, daß im Falle der Gefahr allerdings die Regierung das Recht
hat
, die Enteignung auch ohne die gesetzlichen Vorschriften über das
Enteignungsverfahren vorzunehmen; daß sie aber die Nichtberücksichti-
gung dieser gesetzlichen Vorschriften nur so weit eintreten lassen darf,
als die wirkliche Gefahr es ihr unmöglich macht, sie zu befolgen,
und daß sie für das Vorhandensein einer solchen Beschränkung des gesetz-
lichen Rechts durch die Noth dem Enteigneten haftet.

Daß nun ein solches Staatsnothrecht im Wesen des Staats liege
und daß mithin das formelle Enteignungsrecht nicht ausreiche, ist
wohl von jeher anerkannt worden. Allein natürlich konnte man zum
Bewußtsein von dieser Unterscheidung erst da gelangen, wo man eben
das Enteignungsrecht selbst zum Gegenstande einer systematischen Gesetz-
gebung machte. Es ist daher durchaus erklärlich, daß erst die franzö-
sische Expropriations-Gesetzgebung das Staatsnothrecht systematisch vom
Expropriationsrecht schied (1833); diesem Vorgange folgten dann mehrere
deutsche Gesetzgebungen, wie Baden und Hessen, während die übrigen
Staaten, überhaupt einer Enteignungsgesetzgebung entbehrend, auch
jenen Unterschied auf sich beruhen ließen. Dieß ist noch der Fall in
Oesterreich, während Preußen dasselbe nach Frankreichs Muster in seinen
neuesten Entwurf aufgenommen hat. Englands Recht kennt weder den
Begriff noch die Sache.

Das System des Staatsnothrechts bietet jedoch einige Punkte dar,
welche auch für das Enteignungsrecht nicht ohne Bedeutung sind.

III. Das System des Staatsnothrechts.

Auch das Staatsnothrecht muß als seine Grundlage den Unter-
schied des Enteignungs- und des Entschädigungsverfahrens erkennen, da

Stein, die Verwaltungslehre. VII. 23

verordnenden Organe, aber nicht vor dem Gericht, ſondern vor der
geſetzgebenden Gewalt, welche über ſolche Verordnungen und ihre Dauer
entſcheidet. Die ganze Frage gehört demnach in die Lehre von der
vollziehenden Gewalt (wo ſie neben andern in zweiter Auflage ihren
Platz finden wird).

Das Staatsnothrecht dagegen im engern Sinne iſt nichts
anderes, als diejenige Anwendung des Enteignungsrechts, bei der die
plötzliche Gefährdung des Staats und ſeiner organiſchen Funktion das
Eintreten eines regelmäßigen Enteignungsverfahrens, möge daſſelbe
nun ſonſt geordnet ſein wie es will, nicht zuläßt, während alle
Grundſätze der Enteignung ſowohl in Beziehung auf die Aufhebung
des Eigenthums am Gute als in Beziehung auf die Rückerſtattung des
Werthes durch die Entſchädigung, in voller Geltung bleiben.

Das oberſte Rechtsprincip alles Staatsnothrechts ergibt ſich damit
dahin, daß im Falle der Gefahr allerdings die Regierung das Recht
hat
, die Enteignung auch ohne die geſetzlichen Vorſchriften über das
Enteignungsverfahren vorzunehmen; daß ſie aber die Nichtberückſichti-
gung dieſer geſetzlichen Vorſchriften nur ſo weit eintreten laſſen darf,
als die wirkliche Gefahr es ihr unmöglich macht, ſie zu befolgen,
und daß ſie für das Vorhandenſein einer ſolchen Beſchränkung des geſetz-
lichen Rechts durch die Noth dem Enteigneten haftet.

Daß nun ein ſolches Staatsnothrecht im Weſen des Staats liege
und daß mithin das formelle Enteignungsrecht nicht ausreiche, iſt
wohl von jeher anerkannt worden. Allein natürlich konnte man zum
Bewußtſein von dieſer Unterſcheidung erſt da gelangen, wo man eben
das Enteignungsrecht ſelbſt zum Gegenſtande einer ſyſtematiſchen Geſetz-
gebung machte. Es iſt daher durchaus erklärlich, daß erſt die franzö-
ſiſche Expropriations-Geſetzgebung das Staatsnothrecht ſyſtematiſch vom
Expropriationsrecht ſchied (1833); dieſem Vorgange folgten dann mehrere
deutſche Geſetzgebungen, wie Baden und Heſſen, während die übrigen
Staaten, überhaupt einer Enteignungsgeſetzgebung entbehrend, auch
jenen Unterſchied auf ſich beruhen ließen. Dieß iſt noch der Fall in
Oeſterreich, während Preußen daſſelbe nach Frankreichs Muſter in ſeinen
neueſten Entwurf aufgenommen hat. Englands Recht kennt weder den
Begriff noch die Sache.

Das Syſtem des Staatsnothrechts bietet jedoch einige Punkte dar,
welche auch für das Enteignungsrecht nicht ohne Bedeutung ſind.

III. Das Syſtem des Staatsnothrechts.

Auch das Staatsnothrecht muß als ſeine Grundlage den Unter-
ſchied des Enteignungs- und des Entſchädigungsverfahrens erkennen, da

Stein, die Verwaltungslehre. VII. 23
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[345/0363] verordnenden Organe, aber nicht vor dem Gericht, ſondern vor der geſetzgebenden Gewalt, welche über ſolche Verordnungen und ihre Dauer entſcheidet. Die ganze Frage gehört demnach in die Lehre von der vollziehenden Gewalt (wo ſie neben andern in zweiter Auflage ihren Platz finden wird). Das Staatsnothrecht dagegen im engern Sinne iſt nichts anderes, als diejenige Anwendung des Enteignungsrechts, bei der die plötzliche Gefährdung des Staats und ſeiner organiſchen Funktion das Eintreten eines regelmäßigen Enteignungsverfahrens, möge daſſelbe nun ſonſt geordnet ſein wie es will, nicht zuläßt, während alle Grundſätze der Enteignung ſowohl in Beziehung auf die Aufhebung des Eigenthums am Gute als in Beziehung auf die Rückerſtattung des Werthes durch die Entſchädigung, in voller Geltung bleiben. Das oberſte Rechtsprincip alles Staatsnothrechts ergibt ſich damit dahin, daß im Falle der Gefahr allerdings die Regierung das Recht hat, die Enteignung auch ohne die geſetzlichen Vorſchriften über das Enteignungsverfahren vorzunehmen; daß ſie aber die Nichtberückſichti- gung dieſer geſetzlichen Vorſchriften nur ſo weit eintreten laſſen darf, als die wirkliche Gefahr es ihr unmöglich macht, ſie zu befolgen, und daß ſie für das Vorhandenſein einer ſolchen Beſchränkung des geſetz- lichen Rechts durch die Noth dem Enteigneten haftet. Daß nun ein ſolches Staatsnothrecht im Weſen des Staats liege und daß mithin das formelle Enteignungsrecht nicht ausreiche, iſt wohl von jeher anerkannt worden. Allein natürlich konnte man zum Bewußtſein von dieſer Unterſcheidung erſt da gelangen, wo man eben das Enteignungsrecht ſelbſt zum Gegenſtande einer ſyſtematiſchen Geſetz- gebung machte. Es iſt daher durchaus erklärlich, daß erſt die franzö- ſiſche Expropriations-Geſetzgebung das Staatsnothrecht ſyſtematiſch vom Expropriationsrecht ſchied (1833); dieſem Vorgange folgten dann mehrere deutſche Geſetzgebungen, wie Baden und Heſſen, während die übrigen Staaten, überhaupt einer Enteignungsgeſetzgebung entbehrend, auch jenen Unterſchied auf ſich beruhen ließen. Dieß iſt noch der Fall in Oeſterreich, während Preußen daſſelbe nach Frankreichs Muſter in ſeinen neueſten Entwurf aufgenommen hat. Englands Recht kennt weder den Begriff noch die Sache. Das Syſtem des Staatsnothrechts bietet jedoch einige Punkte dar, welche auch für das Enteignungsrecht nicht ohne Bedeutung ſind. III. Das Syſtem des Staatsnothrechts. Auch das Staatsnothrecht muß als ſeine Grundlage den Unter- ſchied des Enteignungs- und des Entſchädigungsverfahrens erkennen, da Stein, die Verwaltungslehre. VII. 23

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/363>, abgerufen am 18.04.2024.