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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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Staatsbürger; wie ist es möglich, daß er seine principielle Basis, das
Staatsbürgerthum, in seiner materiellen Basis, dem Einzeleigenthum,
angreife? Eben so unmöglich ist die Begründung der Entwährung vom
Standpunkt des allgemeinen Nutzens oder Wohles. Das wahre Ziel
des letzteren ist ja doch nicht das Wohl irgend eines dritten, sondern nur
dasjenige gehört dem öffentlichen Wohl, was die Bedingungen aller
individuellen Entwicklung herstellt. Nun ist die erste Bedingung der
individuellen Entwicklung die Unverletzlichkeit des Einzeleigenthums; wie
kann etwas wahrhaft dem allgemeinen Wohle dienen, das damit beginnt,
die Grundlage des Einzelwohles zu untergraben? -- Doch mag man über
alle diese dialektischen Streitfragen denken wie man will, Ein Punkt über-
ragt sie alle und zeigt, daß es unmöglich ist, aus den Begriffen von
Staat, Recht oder öffentlichem Wohle die Entwährung zu begründen.
Das ist die Unmöglichkeit, für das Recht der Entwährung von jenen Be-
griffen aus eine Gränze zu finden. Entspringt die Entwährung aus
Staat, Recht oder öffentlichem Wohle, so umfaßt sie alle Rechte des Ein-
zelnen, nicht bloß sein Eigenthum, sondern auch seine Ehre und seinen
Glauben; es ist consequent, daß es möglich sein muß, das Recht des
Staats auf Glaubensänderung auf derselben Grundlage dialektisch nach-
zuweisen, wie das auf Entziehung des Einzelvermögens; daß es möglich
sein muß, von dem Einzelnen im Namen des Staats oder des öffent-
lichen Wohles einen Makel für seine Ehre, ein Eingreifen in die in-
timsten Verhältnisse des persönlichen Lebens wie in das Eigenthum zu
verlangen; vor allem aber, daß die Entschädigung bei der Enteig-
nung nicht von dem Wesen der Entwährung selbst, sondern von der Er-
kenntniß abhange, daß das öffentliche Wohl sie fordere: das nun will
doch niemand behaupten. Hat daher diese Entwährung eine Gränze, so
liegt sie offenbar nicht in Staat, Recht oder öffentlichem Nutzen, welche
selbst nur als Momente an der Entwährung erscheinen, sondern sie muß
auf einer wesentlich andern Grundlage entstehen. Sie ist in der That
weder ein Rechts- noch ein eudämonistischer Begriff noch ein Element
des Staatsbegriffes, sondern sie ist eine gesellschaftliche Erschei-
nung
und ihr Recht ist ein gesellschaftliches Recht, und dieß zu zeigen,
ist die Aufgabe des Folgenden.

II. Die Elemente der Bildung des gesellschaftlichen Rechts überhaupt.

Es muß uns dabei verstattet sein, einige leitende Grundsätze aus
der Gesellschaftslehre und ihrer Rechtsbildung hier herauszunehmen, die
eingehende Begründung derselben andern Arbeitern überlassend.

Eine Gesellschaftsordnung ist diejenige Ordnung der Menschen,

Staatsbürger; wie iſt es möglich, daß er ſeine principielle Baſis, das
Staatsbürgerthum, in ſeiner materiellen Baſis, dem Einzeleigenthum,
angreife? Eben ſo unmöglich iſt die Begründung der Entwährung vom
Standpunkt des allgemeinen Nutzens oder Wohles. Das wahre Ziel
des letzteren iſt ja doch nicht das Wohl irgend eines dritten, ſondern nur
dasjenige gehört dem öffentlichen Wohl, was die Bedingungen aller
individuellen Entwicklung herſtellt. Nun iſt die erſte Bedingung der
individuellen Entwicklung die Unverletzlichkeit des Einzeleigenthums; wie
kann etwas wahrhaft dem allgemeinen Wohle dienen, das damit beginnt,
die Grundlage des Einzelwohles zu untergraben? — Doch mag man über
alle dieſe dialektiſchen Streitfragen denken wie man will, Ein Punkt über-
ragt ſie alle und zeigt, daß es unmöglich iſt, aus den Begriffen von
Staat, Recht oder öffentlichem Wohle die Entwährung zu begründen.
Das iſt die Unmöglichkeit, für das Recht der Entwährung von jenen Be-
griffen aus eine Gränze zu finden. Entſpringt die Entwährung aus
Staat, Recht oder öffentlichem Wohle, ſo umfaßt ſie alle Rechte des Ein-
zelnen, nicht bloß ſein Eigenthum, ſondern auch ſeine Ehre und ſeinen
Glauben; es iſt conſequent, daß es möglich ſein muß, das Recht des
Staats auf Glaubensänderung auf derſelben Grundlage dialektiſch nach-
zuweiſen, wie das auf Entziehung des Einzelvermögens; daß es möglich
ſein muß, von dem Einzelnen im Namen des Staats oder des öffent-
lichen Wohles einen Makel für ſeine Ehre, ein Eingreifen in die in-
timſten Verhältniſſe des perſönlichen Lebens wie in das Eigenthum zu
verlangen; vor allem aber, daß die Entſchädigung bei der Enteig-
nung nicht von dem Weſen der Entwährung ſelbſt, ſondern von der Er-
kenntniß abhange, daß das öffentliche Wohl ſie fordere: das nun will
doch niemand behaupten. Hat daher dieſe Entwährung eine Gränze, ſo
liegt ſie offenbar nicht in Staat, Recht oder öffentlichem Nutzen, welche
ſelbſt nur als Momente an der Entwährung erſcheinen, ſondern ſie muß
auf einer weſentlich andern Grundlage entſtehen. Sie iſt in der That
weder ein Rechts- noch ein eudämoniſtiſcher Begriff noch ein Element
des Staatsbegriffes, ſondern ſie iſt eine geſellſchaftliche Erſchei-
nung
und ihr Recht iſt ein geſellſchaftliches Recht, und dieß zu zeigen,
iſt die Aufgabe des Folgenden.

II. Die Elemente der Bildung des geſellſchaftlichen Rechts überhaupt.

Es muß uns dabei verſtattet ſein, einige leitende Grundſätze aus
der Geſellſchaftslehre und ihrer Rechtsbildung hier herauszunehmen, die
eingehende Begründung derſelben andern Arbeitern überlaſſend.

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[71/0089] Staatsbürger; wie iſt es möglich, daß er ſeine principielle Baſis, das Staatsbürgerthum, in ſeiner materiellen Baſis, dem Einzeleigenthum, angreife? Eben ſo unmöglich iſt die Begründung der Entwährung vom Standpunkt des allgemeinen Nutzens oder Wohles. Das wahre Ziel des letzteren iſt ja doch nicht das Wohl irgend eines dritten, ſondern nur dasjenige gehört dem öffentlichen Wohl, was die Bedingungen aller individuellen Entwicklung herſtellt. Nun iſt die erſte Bedingung der individuellen Entwicklung die Unverletzlichkeit des Einzeleigenthums; wie kann etwas wahrhaft dem allgemeinen Wohle dienen, das damit beginnt, die Grundlage des Einzelwohles zu untergraben? — Doch mag man über alle dieſe dialektiſchen Streitfragen denken wie man will, Ein Punkt über- ragt ſie alle und zeigt, daß es unmöglich iſt, aus den Begriffen von Staat, Recht oder öffentlichem Wohle die Entwährung zu begründen. Das iſt die Unmöglichkeit, für das Recht der Entwährung von jenen Be- griffen aus eine Gränze zu finden. Entſpringt die Entwährung aus Staat, Recht oder öffentlichem Wohle, ſo umfaßt ſie alle Rechte des Ein- zelnen, nicht bloß ſein Eigenthum, ſondern auch ſeine Ehre und ſeinen Glauben; es iſt conſequent, daß es möglich ſein muß, das Recht des Staats auf Glaubensänderung auf derſelben Grundlage dialektiſch nach- zuweiſen, wie das auf Entziehung des Einzelvermögens; daß es möglich ſein muß, von dem Einzelnen im Namen des Staats oder des öffent- lichen Wohles einen Makel für ſeine Ehre, ein Eingreifen in die in- timſten Verhältniſſe des perſönlichen Lebens wie in das Eigenthum zu verlangen; vor allem aber, daß die Entſchädigung bei der Enteig- nung nicht von dem Weſen der Entwährung ſelbſt, ſondern von der Er- kenntniß abhange, daß das öffentliche Wohl ſie fordere: das nun will doch niemand behaupten. Hat daher dieſe Entwährung eine Gränze, ſo liegt ſie offenbar nicht in Staat, Recht oder öffentlichem Nutzen, welche ſelbſt nur als Momente an der Entwährung erſcheinen, ſondern ſie muß auf einer weſentlich andern Grundlage entſtehen. Sie iſt in der That weder ein Rechts- noch ein eudämoniſtiſcher Begriff noch ein Element des Staatsbegriffes, ſondern ſie iſt eine geſellſchaftliche Erſchei- nung und ihr Recht iſt ein geſellſchaftliches Recht, und dieß zu zeigen, iſt die Aufgabe des Folgenden. II. Die Elemente der Bildung des geſellſchaftlichen Rechts überhaupt. Es muß uns dabei verſtattet ſein, einige leitende Grundſätze aus der Geſellſchaftslehre und ihrer Rechtsbildung hier herauszunehmen, die eingehende Begründung derſelben andern Arbeitern überlaſſend. Eine Geſellſchaftsordnung iſt diejenige Ordnung der Menſchen,

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/89>, abgerufen am 29.03.2024.