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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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machen, er wird damit in die Reihe der heiratsfähigen Männer aufgenommen".
Haben unsere Naturvölker sich nun für die entgegengesetzte Methode entschieden,
so können sie dabei nicht von einem entgegengesetzten Motiv, das unsinnig wäre,
geleitet worden sein. Aber wohl darf man sich fragen, ob ihre Methode nicht
nur scheinbar entgegengesetzt ist, ob sie nicht in Wirklichkeit dasselbe erreicht?
Nicht dass die Oeffnung erweitert würde; es liegt vielmehr eine gymnastische
Behandlung der Phimose
vor anstatt einer operativen. Dehnen sie denn nicht
die Haut, die die Andern zerschneiden? Schaffen sie nicht Raum innen, wo ihn
die Andern nach aussen schaffen? Am wenigsten kann dies für das Abklemmen
des Praeputiums mittels der Hüftschnur bezweifelt werden, was, wie bereits er-
wähnt, die älteste Form zu sein scheint, da sich die Hüftschnur überall erhalten
hat. Mit dem Stulp wurde die Haut stark vorgezerrt. Bei Jünglingen zeigte sie
sich häufig wund und abgeschürft. Der Europäer lässt zu enge Schuhe vom
Schuster auf den Leisten schlagen, im innern Brasilien aber, wo man nur fertige
importierte Waare kauft, findet ein Mann der guten Gesellschaft gar nichts darin,
in Lackschuhen zu erscheinen, die er sich mit ein paar festen Schnitten erweitert
hat. Sein Messer verhält sich zum Leisten, wie der beschneidende Splitter oder
Dorn zur Hüftschnur.

Eins haben der feine Brasilier und der Europäer in diesem Fall gemeinsam,
sie schämen sich schon beide mehr oder minder, barfuss zu erscheinen. Viel-
leicht kommt auch einmal die Zeit, wo vollkommene Menschen glauben, die
Schuhe seien erfunden, wiel es ein Erbgut unseres Geschlechts gewesen sei, sich
der nackten Füsse zu schämen.

Nicht einmal die wirklichen Anzüge, die unsere Indianer haben -- sie sind
aus Palmstroh geflochten, mit Aermeln und Hosen ausgestattet und dienen zur
Vermummung bei Tanzfesten -- lassen sich zu Gunsten des Ursprungs aus dem
Schamgefühl verwerten: an ihnen werden die Geschlechtsteile gross und deutlich
aussen angebracht. Ich vermag nicht zu glauben, dass ein Schamgefühl, das den
unbekleideten Indianern entschieden fehlt, bei andern Menschen ein primäres Gefühl
sein könne, sondern nehme an, dass es sich erst entwickelte, als man die Teile
schon verhüllte, und dass man die Blösse der Frauen den Blicken erst entzog,
als unter vielleicht nur sehr wenig komplizierteren wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnissen mit regerem Verkehrsleben der Wert des in die Ehe ausgelieferten
Mädchens höher gestiegen war als er noch bei den grossen Familien am Schingu
galt. Auch bin ich der Meinung, dass wir uns die Erklärung schwerer machen
als sie ist, indem wir uns theoretisch ein grösseres Schamgefühl zulegen als wir
praktisch haben.



machen, er wird damit in die Reihe der heiratsfähigen Männer aufgenommen«.
Haben unsere Naturvölker sich nun für die entgegengesetzte Methode entschieden,
so können sie dabei nicht von einem entgegengesetzten Motiv, das unsinnig wäre,
geleitet worden sein. Aber wohl darf man sich fragen, ob ihre Methode nicht
nur scheinbar entgegengesetzt ist, ob sie nicht in Wirklichkeit dasselbe erreicht?
Nicht dass die Oeffnung erweitert würde; es liegt vielmehr eine gymnastische
Behandlung der Phimose
vor anstatt einer operativen. Dehnen sie denn nicht
die Haut, die die Andern zerschneiden? Schaffen sie nicht Raum innen, wo ihn
die Andern nach aussen schaffen? Am wenigsten kann dies für das Abklemmen
des Praeputiums mittels der Hüftschnur bezweifelt werden, was, wie bereits er-
wähnt, die älteste Form zu sein scheint, da sich die Hüftschnur überall erhalten
hat. Mit dem Stulp wurde die Haut stark vorgezerrt. Bei Jünglingen zeigte sie
sich häufig wund und abgeschürft. Der Europäer lässt zu enge Schuhe vom
Schuster auf den Leisten schlagen, im innern Brasilien aber, wo man nur fertige
importierte Waare kauft, findet ein Mann der guten Gesellschaft gar nichts darin,
in Lackschuhen zu erscheinen, die er sich mit ein paar festen Schnitten erweitert
hat. Sein Messer verhält sich zum Leisten, wie der beschneidende Splitter oder
Dorn zur Hüftschnur.

Eins haben der feine Brasilier und der Europäer in diesem Fall gemeinsam,
sie schämen sich schon beide mehr oder minder, barfuss zu erscheinen. Viel-
leicht kommt auch einmal die Zeit, wo vollkommene Menschen glauben, die
Schuhe seien erfunden, wiel es ein Erbgut unseres Geschlechts gewesen sei, sich
der nackten Füsse zu schämen.

Nicht einmal die wirklichen Anzüge, die unsere Indianer haben — sie sind
aus Palmstroh geflochten, mit Aermeln und Hosen ausgestattet und dienen zur
Vermummung bei Tanzfesten — lassen sich zu Gunsten des Ursprungs aus dem
Schamgefühl verwerten: an ihnen werden die Geschlechtsteile gross und deutlich
aussen angebracht. Ich vermag nicht zu glauben, dass ein Schamgefühl, das den
unbekleideten Indianern entschieden fehlt, bei andern Menschen ein primäres Gefühl
sein könne, sondern nehme an, dass es sich erst entwickelte, als man die Teile
schon verhüllte, und dass man die Blösse der Frauen den Blicken erst entzog,
als unter vielleicht nur sehr wenig komplizierteren wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnissen mit regerem Verkehrsleben der Wert des in die Ehe ausgelieferten
Mädchens höher gestiegen war als er noch bei den grossen Familien am Schingú
galt. Auch bin ich der Meinung, dass wir uns die Erklärung schwerer machen
als sie ist, indem wir uns theoretisch ein grösseres Schamgefühl zulegen als wir
praktisch haben.



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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/243>, abgerufen am 19.04.2024.