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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Frage: wie ist Erkenntniß möglich? setzt ein Bewußtsein dar-
über voraus, daß der Vorgang des Erkennens in der Aufhebung
des Gegensatzes zwischen Denken und Sein besteht; und man
fragt sich, wie ist es aber nur möglich, daß das Denken das
Sein durchdringe, oder das Sein ins Denken gelange, da beide
so verschiedener Natur sind?

§ 31. Dialektik, Speculation, logischer Formalismus.

Dieses Verfahren, am Beginne einer Untersuchung sich die
Räthsel und Schwierigkeiten, die an dem zu betrachtenden Ge-
genstande hervortreten, vor allem klar zu vergegenwärtigen, ist
durchaus aristotelisch und konnte bei einem Kenner und Ver-
ehrer des Aristoteles, wie Trendelenburg, vorausgesetzt werden.
Die Erkenntniß der diaporiai ist nach Aristoteles ein wesent-
licher Theil wissenschaftlicher Forschung. Ganz ähnlich sehen
auch Herbart und Hegel die Sache an. Es versteht sich von
selbst, daß sich die Wissenschaft nicht mit dem ersten An-
stoße von einem Widerspruche, auf den die gemeine oder erste
Betrachtung fällt, begnügen kann, sondern daß es ihr ein ern-
stes, wichtiges Geschäft ist, alle Widersprüche, die an ihren Ge-
genständen hervortreten, umsichtig und allseitig aufzusuchen.
Wir nennen diese Betrachtung die dialektische; sie muß sich
in die speculative, d. h. in die Ueberwindung der Wider-
sprüche auflösen. Die Speculation gewährt die eigentliche Er-
kenntniß, die Dialektik ist der Reiz dazu. Wie wichtig letz-
tere ist, liegt nun wohl auf der Hand; denn mit der Aufdeckung
der Widersprüche, mit der Stellung der Fragen ist Anfang und
Ende, Ausgangs- und Zielpunkt bestimmt; und wie sehr ist da-
durch schon der ganze Weg der Wissenschaft vorgezeichnet!
Ja, es ist überhaupt schwer, Dialektik und Speculation scharf zu
scheiden; sie bilden zusammen den einen Weg der Wissenschaft;
die Speculation ist die Fortsetzung der Wissenschaft; aber wie
wäre zu sagen, wo die eine aufhört, die andere beginnt? Spe-
culation ist die fortgesetzte Dialektik selbst; denn nur durch
die vollständigste Vergegenwärtigung der Widersprüche ver-
schwinden sie, und sie sind verschwunden, sobald sie vollständig
aufgefaßt sind.

Die Dialektik ist also gar nicht etwas Besonderes; sie ist
die wissenschaftliche Forschung selbst, und diese könnte sie nicht
aufgeben, ohne ihr Wesen zu verlieren. Sie muß also die Wis-
senschaft überall begleiten und kann nie fehlen. Sie ist nichts

Frage: wie ist Erkenntniß möglich? setzt ein Bewußtsein dar-
über voraus, daß der Vorgang des Erkennens in der Aufhebung
des Gegensatzes zwischen Denken und Sein besteht; und man
fragt sich, wie ist es aber nur möglich, daß das Denken das
Sein durchdringe, oder das Sein ins Denken gelange, da beide
so verschiedener Natur sind?

§ 31. Dialektik, Speculation, logischer Formalismus.

Dieses Verfahren, am Beginne einer Untersuchung sich die
Räthsel und Schwierigkeiten, die an dem zu betrachtenden Ge-
genstande hervortreten, vor allem klar zu vergegenwärtigen, ist
durchaus aristotelisch und konnte bei einem Kenner und Ver-
ehrer des Aristoteles, wie Trendelenburg, vorausgesetzt werden.
Die Erkenntniß der διαποϱίαι ist nach Aristoteles ein wesent-
licher Theil wissenschaftlicher Forschung. Ganz ähnlich sehen
auch Herbart und Hegel die Sache an. Es versteht sich von
selbst, daß sich die Wissenschaft nicht mit dem ersten An-
stoße von einem Widerspruche, auf den die gemeine oder erste
Betrachtung fällt, begnügen kann, sondern daß es ihr ein ern-
stes, wichtiges Geschäft ist, alle Widersprüche, die an ihren Ge-
genständen hervortreten, umsichtig und allseitig aufzusuchen.
Wir nennen diese Betrachtung die dialektische; sie muß sich
in die speculative, d. h. in die Ueberwindung der Wider-
sprüche auflösen. Die Speculation gewährt die eigentliche Er-
kenntniß, die Dialektik ist der Reiz dazu. Wie wichtig letz-
tere ist, liegt nun wohl auf der Hand; denn mit der Aufdeckung
der Widersprüche, mit der Stellung der Fragen ist Anfang und
Ende, Ausgangs- und Zielpunkt bestimmt; und wie sehr ist da-
durch schon der ganze Weg der Wissenschaft vorgezeichnet!
Ja, es ist überhaupt schwer, Dialektik und Speculation scharf zu
scheiden; sie bilden zusammen den einen Weg der Wissenschaft;
die Speculation ist die Fortsetzung der Wissenschaft; aber wie
wäre zu sagen, wo die eine aufhört, die andere beginnt? Spe-
culation ist die fortgesetzte Dialektik selbst; denn nur durch
die vollständigste Vergegenwärtigung der Widersprüche ver-
schwinden sie, und sie sind verschwunden, sobald sie vollständig
aufgefaßt sind.

Die Dialektik ist also gar nicht etwas Besonderes; sie ist
die wissenschaftliche Forschung selbst, und diese könnte sie nicht
aufgeben, ohne ihr Wesen zu verlieren. Sie muß also die Wis-
senschaft überall begleiten und kann nie fehlen. Sie ist nichts

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[68/0106] Frage: wie ist Erkenntniß möglich? setzt ein Bewußtsein dar- über voraus, daß der Vorgang des Erkennens in der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Denken und Sein besteht; und man fragt sich, wie ist es aber nur möglich, daß das Denken das Sein durchdringe, oder das Sein ins Denken gelange, da beide so verschiedener Natur sind? § 31. Dialektik, Speculation, logischer Formalismus. Dieses Verfahren, am Beginne einer Untersuchung sich die Räthsel und Schwierigkeiten, die an dem zu betrachtenden Ge- genstande hervortreten, vor allem klar zu vergegenwärtigen, ist durchaus aristotelisch und konnte bei einem Kenner und Ver- ehrer des Aristoteles, wie Trendelenburg, vorausgesetzt werden. Die Erkenntniß der διαποϱίαι ist nach Aristoteles ein wesent- licher Theil wissenschaftlicher Forschung. Ganz ähnlich sehen auch Herbart und Hegel die Sache an. Es versteht sich von selbst, daß sich die Wissenschaft nicht mit dem ersten An- stoße von einem Widerspruche, auf den die gemeine oder erste Betrachtung fällt, begnügen kann, sondern daß es ihr ein ern- stes, wichtiges Geschäft ist, alle Widersprüche, die an ihren Ge- genständen hervortreten, umsichtig und allseitig aufzusuchen. Wir nennen diese Betrachtung die dialektische; sie muß sich in die speculative, d. h. in die Ueberwindung der Wider- sprüche auflösen. Die Speculation gewährt die eigentliche Er- kenntniß, die Dialektik ist der Reiz dazu. Wie wichtig letz- tere ist, liegt nun wohl auf der Hand; denn mit der Aufdeckung der Widersprüche, mit der Stellung der Fragen ist Anfang und Ende, Ausgangs- und Zielpunkt bestimmt; und wie sehr ist da- durch schon der ganze Weg der Wissenschaft vorgezeichnet! Ja, es ist überhaupt schwer, Dialektik und Speculation scharf zu scheiden; sie bilden zusammen den einen Weg der Wissenschaft; die Speculation ist die Fortsetzung der Wissenschaft; aber wie wäre zu sagen, wo die eine aufhört, die andere beginnt? Spe- culation ist die fortgesetzte Dialektik selbst; denn nur durch die vollständigste Vergegenwärtigung der Widersprüche ver- schwinden sie, und sie sind verschwunden, sobald sie vollständig aufgefaßt sind. Die Dialektik ist also gar nicht etwas Besonderes; sie ist die wissenschaftliche Forschung selbst, und diese könnte sie nicht aufgeben, ohne ihr Wesen zu verlieren. Sie muß also die Wis- senschaft überall begleiten und kann nie fehlen. Sie ist nichts

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/106>, abgerufen am 23.04.2024.