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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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beiden durch die Diagonale entstandenen Dreiecke im Quadrate
sich so oder so verhalten: so wird weder der Logiker noch der
Mathematiker hiergegen etwas einwenden können; und dennoch
ist alles was er sagt unwahr. Wer sein Vermögen berechnet,
aber dabei sein debet und habet nicht richtig ansetzt, mag im-
merhin sehr richtig rechnen: eine wahre Einsicht in den Bestand
seines Vermögens erlangt er nicht; die formalen Forderungen
sind wohl erfüllt, aber nicht die materialen.

Mag nun auch die formale Logik eine sehr einseitige Wis-
senschaft sein: sie ist es nicht mehr, als die reine Mathematik,
und die Erfüllung ihrer Gesetze bildet die Grundlage der Wahr-
heit. Sie bietet durchaus keine Bürgschaft für die Erkenntniß
der Wahrheit; aber was noch nicht einmal richtig gedacht wäre,
würde gewiß noch weniger wahr sein. Die Logik macht die
Voraussetzung, daß in der Wirklichkeit keine Verhältnisse vor-
kommen, die nur gegen die Gesetze der Logik gedacht werden
könnten; denn, kämen sie vor, so würden sie eben gar nicht
gedacht werden können und außerhalb unserer Einsicht und Er-
kenntniß fallen. Denn ein der Logik widersprechender Gedanke
ist eben gar nicht gedacht, und noch weniger also kann mit ihm
etwas begriffen sein.

So einseitig also auch die Logik ist, so wenig sie Wahr-
heit bietet, so ist sie dennoch von höchster Wichtigkeit, da die
Erfüllung ihrer Gesetze die conditio sine qua non der Wahrheit
und alles Denkens ist. Wir sehen es darum für ein Unglück
an, daß man sie in unserm Jahrhundert verachtet und vernach-
lässigt hat. Sie ist das Ein-Mal-Eins der Wahrheit und sollte
daher vorzüglich im Knabenalter und auf den Gymnasien nicht
bloß gelernt, sondern eingeübt werden.

§. 60. Vertheidigung der formalen Logik.

Von den absurden Angriffen der Identitätsphilosophen gegen
die formale Logik zu reden, wäre ein Anachronismus. Der
Weltgeist ist über diese eben so wahnsinnig anmaßende als in-
haltsleere Philosophie hinaus. Aber Trendelenburgs Kritik der
formalen Logik müssen wir näher betrachten.

Trendelenburg hat ein schönes kritisches Princip oder das
wahre kritische Verfahren. Dasselbe ist mit seinen eigenen Wor-
ten (Logische Untersuchungen I. S. 6) so auszusprechen: "Wir
fragen, wie weit ist es der Logik gelungen, ihre Aufgabe zu
lösen? ... Wenn wir hiernach das Werk dieser Wissenschaft

10*

beiden durch die Diagonale entstandenen Dreiecke im Quadrate
sich so oder so verhalten: so wird weder der Logiker noch der
Mathematiker hiergegen etwas einwenden können; und dennoch
ist alles was er sagt unwahr. Wer sein Vermögen berechnet,
aber dabei sein debet und habet nicht richtig ansetzt, mag im-
merhin sehr richtig rechnen: eine wahre Einsicht in den Bestand
seines Vermögens erlangt er nicht; die formalen Forderungen
sind wohl erfüllt, aber nicht die materialen.

Mag nun auch die formale Logik eine sehr einseitige Wis-
senschaft sein: sie ist es nicht mehr, als die reine Mathematik,
und die Erfüllung ihrer Gesetze bildet die Grundlage der Wahr-
heit. Sie bietet durchaus keine Bürgschaft für die Erkenntniß
der Wahrheit; aber was noch nicht einmal richtig gedacht wäre,
würde gewiß noch weniger wahr sein. Die Logik macht die
Voraussetzung, daß in der Wirklichkeit keine Verhältnisse vor-
kommen, die nur gegen die Gesetze der Logik gedacht werden
könnten; denn, kämen sie vor, so würden sie eben gar nicht
gedacht werden können und außerhalb unserer Einsicht und Er-
kenntniß fallen. Denn ein der Logik widersprechender Gedanke
ist eben gar nicht gedacht, und noch weniger also kann mit ihm
etwas begriffen sein.

So einseitig also auch die Logik ist, so wenig sie Wahr-
heit bietet, so ist sie dennoch von höchster Wichtigkeit, da die
Erfüllung ihrer Gesetze die conditio sine qua non der Wahrheit
und alles Denkens ist. Wir sehen es darum für ein Unglück
an, daß man sie in unserm Jahrhundert verachtet und vernach-
lässigt hat. Sie ist das Ein-Mal-Eins der Wahrheit und sollte
daher vorzüglich im Knabenalter und auf den Gymnasien nicht
bloß gelernt, sondern eingeübt werden.

§. 60. Vertheidigung der formalen Logik.

Von den absurden Angriffen der Identitätsphilosophen gegen
die formale Logik zu reden, wäre ein Anachronismus. Der
Weltgeist ist über diese eben so wahnsinnig anmaßende als in-
haltsleere Philosophie hinaus. Aber Trendelenburgs Kritik der
formalen Logik müssen wir näher betrachten.

Trendelenburg hat ein schönes kritisches Princip oder das
wahre kritische Verfahren. Dasselbe ist mit seinen eigenen Wor-
ten (Logische Untersuchungen I. S. 6) so auszusprechen: „Wir
fragen, wie weit ist es der Logik gelungen, ihre Aufgabe zu
lösen? … Wenn wir hiernach das Werk dieser Wissenschaft

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[147/0185] beiden durch die Diagonale entstandenen Dreiecke im Quadrate sich so oder so verhalten: so wird weder der Logiker noch der Mathematiker hiergegen etwas einwenden können; und dennoch ist alles was er sagt unwahr. Wer sein Vermögen berechnet, aber dabei sein debet und habet nicht richtig ansetzt, mag im- merhin sehr richtig rechnen: eine wahre Einsicht in den Bestand seines Vermögens erlangt er nicht; die formalen Forderungen sind wohl erfüllt, aber nicht die materialen. Mag nun auch die formale Logik eine sehr einseitige Wis- senschaft sein: sie ist es nicht mehr, als die reine Mathematik, und die Erfüllung ihrer Gesetze bildet die Grundlage der Wahr- heit. Sie bietet durchaus keine Bürgschaft für die Erkenntniß der Wahrheit; aber was noch nicht einmal richtig gedacht wäre, würde gewiß noch weniger wahr sein. Die Logik macht die Voraussetzung, daß in der Wirklichkeit keine Verhältnisse vor- kommen, die nur gegen die Gesetze der Logik gedacht werden könnten; denn, kämen sie vor, so würden sie eben gar nicht gedacht werden können und außerhalb unserer Einsicht und Er- kenntniß fallen. Denn ein der Logik widersprechender Gedanke ist eben gar nicht gedacht, und noch weniger also kann mit ihm etwas begriffen sein. So einseitig also auch die Logik ist, so wenig sie Wahr- heit bietet, so ist sie dennoch von höchster Wichtigkeit, da die Erfüllung ihrer Gesetze die conditio sine qua non der Wahrheit und alles Denkens ist. Wir sehen es darum für ein Unglück an, daß man sie in unserm Jahrhundert verachtet und vernach- lässigt hat. Sie ist das Ein-Mal-Eins der Wahrheit und sollte daher vorzüglich im Knabenalter und auf den Gymnasien nicht bloß gelernt, sondern eingeübt werden. §. 60. Vertheidigung der formalen Logik. Von den absurden Angriffen der Identitätsphilosophen gegen die formale Logik zu reden, wäre ein Anachronismus. Der Weltgeist ist über diese eben so wahnsinnig anmaßende als in- haltsleere Philosophie hinaus. Aber Trendelenburgs Kritik der formalen Logik müssen wir näher betrachten. Trendelenburg hat ein schönes kritisches Princip oder das wahre kritische Verfahren. Dasselbe ist mit seinen eigenen Wor- ten (Logische Untersuchungen I. S. 6) so auszusprechen: „Wir fragen, wie weit ist es der Logik gelungen, ihre Aufgabe zu lösen? … Wenn wir hiernach das Werk dieser Wissenschaft 10*

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/185>, abgerufen am 29.03.2024.