Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Mensch spricht: so sprach auch der Urmensch; quot membra
tot linguae. Je mehr der Geist sich entwickelte, je bestimmter
die Vorstellungen wurden, um so kälter wurde das Gefühl; wie
sich die Lautsprache hervorthat, so wurde die Mimik des Lei-
bes stummer, -- auch unnöthiger.

Hier sehen wir abermals, wie die Sprache nicht bloß zu
der einen der beiden Classen von Reflexbewegungen gehört, son-
dern auch zu der andern, der Classe der unbewußten Nachah-
mungen. Sich mittheilen und verstanden werden, überhaupt
Gesellschaft ist von höchst günstigem Einflusse für die Entwi-
ckelung der Sprache und des Sprechenden selbst. Die Gegen-
wart des Andern treibt an zum Denken und Sprechen, während
man in der Einsamkeit schläft oder dumpf hinbrütet. Weil die
Gesellschaft der Entwickelung des Denkens nothwendig ist, darum
ist sie es auch für die Sprache. Die Sprache aber, die sich in
der Gesellschaft entwickelt, ist das gemeinsame, wechselwirkend
sympathetische Werk des Menschen, und darum schließt sie das
Verständniß schon in sich.

Daß alles Verständniß auf Sympathie beruhe, das geht auch
daraus hervor, daß es nur so weit reicht wie diese, und da auf-
hört, wo diese schwindet. Hört auf den Streit der Parteien und
ihr werdet vernehmen, wie es unaufhörlich herüber und hinüber
schallet: ihr versteht uns nicht. Wie oft werden wir, ob-
gleich wir uns klar genug ausdrückten, selbst vom Freunde nicht
verstanden, weil eine zufällige Association einer Vorstellung mit
einer andern in ihm die Sympathie unterbrochen hatte.

Das Kind lernt heute noch, wie der Urmensch, in Gesell-
schaft denken, und erlernt die Sprache, durch welche sein Den-
ken von außen her angeregt wird.

2. Leistung der Sprache für das Denken.
a) Wesen der Vorstellung im Allgemeinen.

Wir haben die Entstehung der Sprache kennen gelernt und
die bildenden Momente, in deren Zusammenwirken ihr Sein und
Leben liegt. Fragen wir uns nun, was durch dieselbe für die
geistige Entwickelung gewonnen ist. Die Entwickelung der Spra-
che, das haben wir gesehen, ist selbst eine Stufe des sich bil-
denden Bewußtseins, die wir sogar in drei sehr verschiedene
Unterstufen eintheilen mußten. Auf der dritten Stufe der in-

Mensch spricht: so sprach auch der Urmensch; quot membra
tot linguae. Je mehr der Geist sich entwickelte, je bestimmter
die Vorstellungen wurden, um so kälter wurde das Gefühl; wie
sich die Lautsprache hervorthat, so wurde die Mimik des Lei-
bes stummer, — auch unnöthiger.

Hier sehen wir abermals, wie die Sprache nicht bloß zu
der einen der beiden Classen von Reflexbewegungen gehört, son-
dern auch zu der andern, der Classe der unbewußten Nachah-
mungen. Sich mittheilen und verstanden werden, überhaupt
Gesellschaft ist von höchst günstigem Einflusse für die Entwi-
ckelung der Sprache und des Sprechenden selbst. Die Gegen-
wart des Andern treibt an zum Denken und Sprechen, während
man in der Einsamkeit schläft oder dumpf hinbrütet. Weil die
Gesellschaft der Entwickelung des Denkens nothwendig ist, darum
ist sie es auch für die Sprache. Die Sprache aber, die sich in
der Gesellschaft entwickelt, ist das gemeinsame, wechselwirkend
sympathetische Werk des Menschen, und darum schließt sie das
Verständniß schon in sich.

Daß alles Verständniß auf Sympathie beruhe, das geht auch
daraus hervor, daß es nur so weit reicht wie diese, und da auf-
hört, wo diese schwindet. Hört auf den Streit der Parteien und
ihr werdet vernehmen, wie es unaufhörlich herüber und hinüber
schallet: ihr versteht uns nicht. Wie oft werden wir, ob-
gleich wir uns klar genug ausdrückten, selbst vom Freunde nicht
verstanden, weil eine zufällige Association einer Vorstellung mit
einer andern in ihm die Sympathie unterbrochen hatte.

Das Kind lernt heute noch, wie der Urmensch, in Gesell-
schaft denken, und erlernt die Sprache, durch welche sein Den-
ken von außen her angeregt wird.

2. Leistung der Sprache für das Denken.
a) Wesen der Vorstellung im Allgemeinen.

Wir haben die Entstehung der Sprache kennen gelernt und
die bildenden Momente, in deren Zusammenwirken ihr Sein und
Leben liegt. Fragen wir uns nun, was durch dieselbe für die
geistige Entwickelung gewonnen ist. Die Entwickelung der Spra-
che, das haben wir gesehen, ist selbst eine Stufe des sich bil-
denden Bewußtseins, die wir sogar in drei sehr verschiedene
Unterstufen eintheilen mußten. Auf der dritten Stufe der in-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0356" n="318"/>
Mensch spricht: so sprach auch der Urmensch; quot membra<lb/>
tot linguae. Je mehr der Geist sich entwickelte, je bestimmter<lb/>
die Vorstellungen wurden, um so kälter wurde das Gefühl; wie<lb/>
sich die Lautsprache hervorthat, so wurde die Mimik des Lei-<lb/>
bes stummer, &#x2014; auch unnöthiger.</p><lb/>
                <p>Hier sehen wir abermals, wie die Sprache nicht bloß zu<lb/>
der einen der beiden Classen von Reflexbewegungen gehört, son-<lb/>
dern auch zu der andern, der Classe der unbewußten Nachah-<lb/>
mungen. Sich mittheilen und verstanden werden, überhaupt<lb/>
Gesellschaft ist von höchst günstigem Einflusse für die Entwi-<lb/>
ckelung der Sprache und des Sprechenden selbst. Die Gegen-<lb/>
wart des Andern treibt an zum Denken und Sprechen, während<lb/>
man in der Einsamkeit schläft oder dumpf hinbrütet. Weil die<lb/>
Gesellschaft der Entwickelung des Denkens nothwendig ist, darum<lb/>
ist sie es auch für die Sprache. Die Sprache aber, die sich in<lb/>
der Gesellschaft entwickelt, ist das gemeinsame, wechselwirkend<lb/>
sympathetische Werk des Menschen, und darum schließt sie das<lb/>
Verständniß schon in sich.</p><lb/>
                <p>Daß alles Verständniß auf Sympathie beruhe, das geht auch<lb/>
daraus hervor, daß es nur so weit reicht wie diese, und da auf-<lb/>
hört, wo diese schwindet. Hört auf den Streit der Parteien und<lb/>
ihr werdet vernehmen, wie es unaufhörlich herüber und hinüber<lb/>
schallet: <hi rendition="#g">ihr versteht uns nicht</hi>. Wie oft werden wir, ob-<lb/>
gleich wir uns klar genug ausdrückten, selbst vom Freunde nicht<lb/>
verstanden, weil eine zufällige Association einer Vorstellung mit<lb/>
einer andern in ihm die Sympathie unterbrochen hatte.</p><lb/>
                <p>Das Kind lernt heute noch, wie der Urmensch, in Gesell-<lb/>
schaft denken, und erlernt die Sprache, durch welche sein Den-<lb/>
ken von außen her angeregt wird.</p>
              </div>
            </div>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>2. Leistung der Sprache für das Denken.</head><lb/>
            <div n="4">
              <head><hi rendition="#i">a</hi>) <hi rendition="#g">Wesen der Vorstellung im Allgemeinen</hi>.</head><lb/>
              <p>Wir haben die Entstehung der Sprache kennen gelernt und<lb/>
die bildenden Momente, in deren Zusammenwirken ihr Sein und<lb/>
Leben liegt. Fragen wir uns nun, was durch dieselbe für die<lb/>
geistige Entwickelung gewonnen ist. Die Entwickelung der Spra-<lb/>
che, das haben wir gesehen, ist selbst eine Stufe des sich bil-<lb/>
denden Bewußtseins, die wir sogar in drei sehr verschiedene<lb/>
Unterstufen eintheilen mußten. Auf der dritten Stufe der in-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[318/0356] Mensch spricht: so sprach auch der Urmensch; quot membra tot linguae. Je mehr der Geist sich entwickelte, je bestimmter die Vorstellungen wurden, um so kälter wurde das Gefühl; wie sich die Lautsprache hervorthat, so wurde die Mimik des Lei- bes stummer, — auch unnöthiger. Hier sehen wir abermals, wie die Sprache nicht bloß zu der einen der beiden Classen von Reflexbewegungen gehört, son- dern auch zu der andern, der Classe der unbewußten Nachah- mungen. Sich mittheilen und verstanden werden, überhaupt Gesellschaft ist von höchst günstigem Einflusse für die Entwi- ckelung der Sprache und des Sprechenden selbst. Die Gegen- wart des Andern treibt an zum Denken und Sprechen, während man in der Einsamkeit schläft oder dumpf hinbrütet. Weil die Gesellschaft der Entwickelung des Denkens nothwendig ist, darum ist sie es auch für die Sprache. Die Sprache aber, die sich in der Gesellschaft entwickelt, ist das gemeinsame, wechselwirkend sympathetische Werk des Menschen, und darum schließt sie das Verständniß schon in sich. Daß alles Verständniß auf Sympathie beruhe, das geht auch daraus hervor, daß es nur so weit reicht wie diese, und da auf- hört, wo diese schwindet. Hört auf den Streit der Parteien und ihr werdet vernehmen, wie es unaufhörlich herüber und hinüber schallet: ihr versteht uns nicht. Wie oft werden wir, ob- gleich wir uns klar genug ausdrückten, selbst vom Freunde nicht verstanden, weil eine zufällige Association einer Vorstellung mit einer andern in ihm die Sympathie unterbrochen hatte. Das Kind lernt heute noch, wie der Urmensch, in Gesell- schaft denken, und erlernt die Sprache, durch welche sein Den- ken von außen her angeregt wird. 2. Leistung der Sprache für das Denken. a) Wesen der Vorstellung im Allgemeinen. Wir haben die Entstehung der Sprache kennen gelernt und die bildenden Momente, in deren Zusammenwirken ihr Sein und Leben liegt. Fragen wir uns nun, was durch dieselbe für die geistige Entwickelung gewonnen ist. Die Entwickelung der Spra- che, das haben wir gesehen, ist selbst eine Stufe des sich bil- denden Bewußtseins, die wir sogar in drei sehr verschiedene Unterstufen eintheilen mußten. Auf der dritten Stufe der in-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/356
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/356>, abgerufen am 16.04.2024.