Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Bevor man den Wolf als den Reißenden bezeichnen konnte,
mußte freilich ein Wort für reißen, für die Thätigkeit an sich,
gebildet sein. Wir sahen ja auch, daß die Stufe, auf welcher
die innere Sprachform zu solcher Bildungsweise gelangte, nach
welcher Wolf gebildet ist, keineswegs die erste ist. Wir sind
aber in unserer Entwickelung noch nicht weit genug vorgerückt,
und haben noch gar nicht gesehen, wie die Seele zur Auffassung
von Thätigkeiten gelangt. Dies soll nun gezeigt werden.

§. 109. Der explicite Satz.

Wir stehen hier noch ganz am Anfange der Entwickelung
der Vorstellung; sie ist noch weiter nichts, als eine Anschauung,
deren Merkmale gedacht werden als sich an eines aus ihrer Mitte
anschließend. Hier ist nicht bloß noch kein grammatisches Ver-
bum, kein grammatisches Substantivum, sondern auch das Ding
und die Thätigkeit oder das Merkmal überhaupt sind noch nicht
streng von einander abgeschieden. Es ist wohl ein Merkmal
aus dem Complex hervorgehoben; aber dasselbe liegt doch noch
in ihm, es bildet den Mittelpunkt, oder, wie wir oben sagten,
die Spitze des Kegels; es umfaßt also sich und alle Merkmale
der Anschauung zugleich. Das Urtheil der Seele in der An-
schauung lautet: das wahrgenommene Object ist die Summe mei-
ner Empfindungen von demselben. In der Vorstellung wird hieran
zunächst nur dies geändert, daß durch eine Abkürzung statt der
sämmtlichen Empfindungen von einem Dinge nur eine im Laute
reflectirte und mit diesem Laute associirte gesetzt wird. Der
Werth und das Wesen dieses anschauenden Urtheils ist noch
nicht geändert, nur die Ausdrucksweise, die eine abkürzende ist.
Bei diesem ersten Auftreten der Vorstellung hat das eine, zu-
sammenfassende Merkmal, welches den ganzen Complex vertritt,
noch nicht die Bedeutung des Dinges an sich, die wir oben als
bezeichnend für die Vorstellung angaben; aber sie wird diese
Bedeutung sogleich erhalten, und damit wird erst das Ding von
seinen Thätigkeiten und Merkmalen geschieden. Und wie ge-
schieht dies?

Man begreift wohl schon, daß wenn der Complex von Merk-
malen der Anschauung einmal so zugespitzt ist, daß ein Merk-
mal sie alle vor dem Bewußtsein vertritt, vorstellt, bedeutet
(gewissermaßen wie ein Abgeordneter eine Gesammtheit vertritt
oder vorstellt), man begreift, sage ich, wie jetzt die Seele ge-
zwungen wird, sich klar zu machen, welche Merkmale es sind,

Bevor man den Wolf als den Reißenden bezeichnen konnte,
mußte freilich ein Wort für reißen, für die Thätigkeit an sich,
gebildet sein. Wir sahen ja auch, daß die Stufe, auf welcher
die innere Sprachform zu solcher Bildungsweise gelangte, nach
welcher Wolf gebildet ist, keineswegs die erste ist. Wir sind
aber in unserer Entwickelung noch nicht weit genug vorgerückt,
und haben noch gar nicht gesehen, wie die Seele zur Auffassung
von Thätigkeiten gelangt. Dies soll nun gezeigt werden.

§. 109. Der explicite Satz.

Wir stehen hier noch ganz am Anfange der Entwickelung
der Vorstellung; sie ist noch weiter nichts, als eine Anschauung,
deren Merkmale gedacht werden als sich an eines aus ihrer Mitte
anschließend. Hier ist nicht bloß noch kein grammatisches Ver-
bum, kein grammatisches Substantivum, sondern auch das Ding
und die Thätigkeit oder das Merkmal überhaupt sind noch nicht
streng von einander abgeschieden. Es ist wohl ein Merkmal
aus dem Complex hervorgehoben; aber dasselbe liegt doch noch
in ihm, es bildet den Mittelpunkt, oder, wie wir oben sagten,
die Spitze des Kegels; es umfaßt also sich und alle Merkmale
der Anschauung zugleich. Das Urtheil der Seele in der An-
schauung lautet: das wahrgenommene Object ist die Summe mei-
ner Empfindungen von demselben. In der Vorstellung wird hieran
zunächst nur dies geändert, daß durch eine Abkürzung statt der
sämmtlichen Empfindungen von einem Dinge nur eine im Laute
reflectirte und mit diesem Laute associirte gesetzt wird. Der
Werth und das Wesen dieses anschauenden Urtheils ist noch
nicht geändert, nur die Ausdrucksweise, die eine abkürzende ist.
Bei diesem ersten Auftreten der Vorstellung hat das eine, zu-
sammenfassende Merkmal, welches den ganzen Complex vertritt,
noch nicht die Bedeutung des Dinges an sich, die wir oben als
bezeichnend für die Vorstellung angaben; aber sie wird diese
Bedeutung sogleich erhalten, und damit wird erst das Ding von
seinen Thätigkeiten und Merkmalen geschieden. Und wie ge-
schieht dies?

Man begreift wohl schon, daß wenn der Complex von Merk-
malen der Anschauung einmal so zugespitzt ist, daß ein Merk-
mal sie alle vor dem Bewußtsein vertritt, vorstellt, bedeutet
(gewissermaßen wie ein Abgeordneter eine Gesammtheit vertritt
oder vorstellt), man begreift, sage ich, wie jetzt die Seele ge-
zwungen wird, sich klar zu machen, welche Merkmale es sind,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0364" n="326"/>
                <p>Bevor man den Wolf als den Reißenden bezeichnen konnte,<lb/>
mußte freilich ein Wort für <hi rendition="#i">reißen,</hi> für die Thätigkeit an sich,<lb/>
gebildet sein. Wir sahen ja auch, daß die Stufe, auf welcher<lb/>
die innere Sprachform zu solcher Bildungsweise gelangte, nach<lb/>
welcher <hi rendition="#i">Wolf</hi> gebildet ist, keineswegs die erste ist. Wir sind<lb/>
aber in unserer Entwickelung noch nicht weit genug vorgerückt,<lb/>
und haben noch gar nicht gesehen, wie die Seele zur Auffassung<lb/>
von Thätigkeiten gelangt. Dies soll nun gezeigt werden.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 109. Der explicite Satz.</head><lb/>
                <p>Wir stehen hier noch ganz am Anfange der Entwickelung<lb/>
der Vorstellung; sie ist noch weiter nichts, als eine Anschauung,<lb/>
deren Merkmale gedacht werden als sich an eines aus ihrer Mitte<lb/>
anschließend. Hier ist nicht bloß noch kein grammatisches Ver-<lb/>
bum, kein grammatisches Substantivum, sondern auch das Ding<lb/>
und die Thätigkeit oder das Merkmal überhaupt sind noch nicht<lb/>
streng von einander abgeschieden. Es ist wohl ein Merkmal<lb/>
aus dem Complex hervorgehoben; aber dasselbe liegt doch noch<lb/>
in ihm, es bildet den Mittelpunkt, oder, wie wir oben sagten,<lb/>
die Spitze des Kegels; es umfaßt also sich und alle Merkmale<lb/>
der Anschauung zugleich. Das Urtheil der Seele in der An-<lb/>
schauung lautet: das wahrgenommene Object ist die Summe mei-<lb/>
ner Empfindungen von demselben. In der Vorstellung wird hieran<lb/>
zunächst nur dies geändert, daß durch eine Abkürzung statt der<lb/>
sämmtlichen Empfindungen von einem Dinge nur <hi rendition="#g">eine</hi> im Laute<lb/>
reflectirte und mit diesem Laute associirte gesetzt wird. Der<lb/>
Werth und das Wesen dieses anschauenden Urtheils ist noch<lb/>
nicht geändert, nur die Ausdrucksweise, die eine abkürzende ist.<lb/>
Bei diesem ersten Auftreten der Vorstellung hat das eine, zu-<lb/>
sammenfassende Merkmal, welches den ganzen Complex vertritt,<lb/>
noch nicht die Bedeutung des Dinges an sich, die wir oben als<lb/>
bezeichnend für die Vorstellung angaben; aber sie wird diese<lb/>
Bedeutung sogleich erhalten, und damit wird erst das Ding von<lb/>
seinen Thätigkeiten und Merkmalen geschieden. Und wie ge-<lb/>
schieht dies?</p><lb/>
                <p>Man begreift wohl schon, daß wenn der Complex von Merk-<lb/>
malen der Anschauung einmal so zugespitzt ist, daß <hi rendition="#g">ein</hi> Merk-<lb/>
mal sie alle vor dem Bewußtsein vertritt, vorstellt, bedeutet<lb/>
(gewissermaßen wie ein Abgeordneter eine Gesammtheit vertritt<lb/>
oder vorstellt), man begreift, sage ich, wie jetzt die Seele ge-<lb/>
zwungen wird, sich klar zu machen, welche Merkmale es sind,<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[326/0364] Bevor man den Wolf als den Reißenden bezeichnen konnte, mußte freilich ein Wort für reißen, für die Thätigkeit an sich, gebildet sein. Wir sahen ja auch, daß die Stufe, auf welcher die innere Sprachform zu solcher Bildungsweise gelangte, nach welcher Wolf gebildet ist, keineswegs die erste ist. Wir sind aber in unserer Entwickelung noch nicht weit genug vorgerückt, und haben noch gar nicht gesehen, wie die Seele zur Auffassung von Thätigkeiten gelangt. Dies soll nun gezeigt werden. §. 109. Der explicite Satz. Wir stehen hier noch ganz am Anfange der Entwickelung der Vorstellung; sie ist noch weiter nichts, als eine Anschauung, deren Merkmale gedacht werden als sich an eines aus ihrer Mitte anschließend. Hier ist nicht bloß noch kein grammatisches Ver- bum, kein grammatisches Substantivum, sondern auch das Ding und die Thätigkeit oder das Merkmal überhaupt sind noch nicht streng von einander abgeschieden. Es ist wohl ein Merkmal aus dem Complex hervorgehoben; aber dasselbe liegt doch noch in ihm, es bildet den Mittelpunkt, oder, wie wir oben sagten, die Spitze des Kegels; es umfaßt also sich und alle Merkmale der Anschauung zugleich. Das Urtheil der Seele in der An- schauung lautet: das wahrgenommene Object ist die Summe mei- ner Empfindungen von demselben. In der Vorstellung wird hieran zunächst nur dies geändert, daß durch eine Abkürzung statt der sämmtlichen Empfindungen von einem Dinge nur eine im Laute reflectirte und mit diesem Laute associirte gesetzt wird. Der Werth und das Wesen dieses anschauenden Urtheils ist noch nicht geändert, nur die Ausdrucksweise, die eine abkürzende ist. Bei diesem ersten Auftreten der Vorstellung hat das eine, zu- sammenfassende Merkmal, welches den ganzen Complex vertritt, noch nicht die Bedeutung des Dinges an sich, die wir oben als bezeichnend für die Vorstellung angaben; aber sie wird diese Bedeutung sogleich erhalten, und damit wird erst das Ding von seinen Thätigkeiten und Merkmalen geschieden. Und wie ge- schieht dies? Man begreift wohl schon, daß wenn der Complex von Merk- malen der Anschauung einmal so zugespitzt ist, daß ein Merk- mal sie alle vor dem Bewußtsein vertritt, vorstellt, bedeutet (gewissermaßen wie ein Abgeordneter eine Gesammtheit vertritt oder vorstellt), man begreift, sage ich, wie jetzt die Seele ge- zwungen wird, sich klar zu machen, welche Merkmale es sind,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/364
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/364>, abgerufen am 23.04.2024.