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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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ten. Die Dialektik beruht also auf der Anerkennung der Un-
denkbarkeit des Widerspruchs, und da nun die dialektische Phi-
losophie nichts anderes thut, als Widersprüche aufdecken, ohne
ihnen je zu entfliehen, ohne sie je zu lösen, von ihnen im Kreise
herumgejagt: so verurtheilt sie sich selbst als die Philosophie
des Falschen, welche nur erst Vorbereitung der wahren Philo-
sophie ist.

Da das Gesetz des Widerspruchs unserm Geiste so unver-
letzlich angehört, so sucht er, so oft er sich in einem Wider-
spruche befangen sieht, denselben aufzulösen, indem er die ihm
zu Grunde liegenden Beziehungen ändert. Diese Aenderung,
Verbesserung der Beziehungen wird sich aber nicht immer durch
bloße Bearbeitung der Begriffe, durch Spalten und neues Spal-
ten bewirken lassen; sondern es werden neue Thatsachen hinzu-
treten, und alte Thatsachen von neuem untersucht und in neuen
Begriffen erfaßt werden müssen.

Wenn wir nun von Laut- und innerer Sprachform reden,
also überhaupt die Sprache Form nennen: so müssen wir uns
klar zu machen suchen, in welchen Beziehungen hier Stoff und
Form auftreten, und wo der Stoff zur innern Sprachform liegt.

§. 126. Die Sprache als Form des Gedankens.

Man hat die Sprache Form des Gedankens genannt, inso-
fern sie ihn darstellt; der Gedanke umgekehrt sei der darge-
stellte Inhalt. Wir können uns, denke ich, dies recht wohl ge-
fallen lassen. Aber wir müssen uns klar vorhalten, was hierin
liegt. So gut wie die Sprache Darstellung von Gedanken ist,
ist auch die Bühne Darstellung der Welt, das Portrait Darstel-
lung einer Person. So wenig das Portrait die Person selbst, so
wenig die Bühne die Welt ist: eben so wenig ist die Sprache
der Gedanke; sondern wie die Bühne die Welt bedeutet, eben
so bedeutet die Sprache den Gedanken. Wir werden durch die
Bühne sogar an einen vollen Gegensatz zwischen Wirklichkeit
und Schein erinnert; denn darstellen heißt bloß den Schein er-
regen. Und wir wissen ja, wie oft leider Worte Gedanken nur
darstellen, d. h. den Schein von Gedanken erregen.

Darstellen heißt allerdings ursprünglich eine Sache hinstel-
len, vor Augen stellen. Niemals aber wird der Gedanke so
nackt hingestellt, wie er geboren ist; nie tritt er aus dem Ver-
stecke des Geistes, aus der Stätte seiner Empfängniß hervor.
Eben darum bedürfen wir eines Darstellungsmittels, welches die

ten. Die Dialektik beruht also auf der Anerkennung der Un-
denkbarkeit des Widerspruchs, und da nun die dialektische Phi-
losophie nichts anderes thut, als Widersprüche aufdecken, ohne
ihnen je zu entfliehen, ohne sie je zu lösen, von ihnen im Kreise
herumgejagt: so verurtheilt sie sich selbst als die Philosophie
des Falschen, welche nur erst Vorbereitung der wahren Philo-
sophie ist.

Da das Gesetz des Widerspruchs unserm Geiste so unver-
letzlich angehört, so sucht er, so oft er sich in einem Wider-
spruche befangen sieht, denselben aufzulösen, indem er die ihm
zu Grunde liegenden Beziehungen ändert. Diese Aenderung,
Verbesserung der Beziehungen wird sich aber nicht immer durch
bloße Bearbeitung der Begriffe, durch Spalten und neues Spal-
ten bewirken lassen; sondern es werden neue Thatsachen hinzu-
treten, und alte Thatsachen von neuem untersucht und in neuen
Begriffen erfaßt werden müssen.

Wenn wir nun von Laut- und innerer Sprachform reden,
also überhaupt die Sprache Form nennen: so müssen wir uns
klar zu machen suchen, in welchen Beziehungen hier Stoff und
Form auftreten, und wo der Stoff zur innern Sprachform liegt.

§. 126. Die Sprache als Form des Gedankens.

Man hat die Sprache Form des Gedankens genannt, inso-
fern sie ihn darstellt; der Gedanke umgekehrt sei der darge-
stellte Inhalt. Wir können uns, denke ich, dies recht wohl ge-
fallen lassen. Aber wir müssen uns klar vorhalten, was hierin
liegt. So gut wie die Sprache Darstellung von Gedanken ist,
ist auch die Bühne Darstellung der Welt, das Portrait Darstel-
lung einer Person. So wenig das Portrait die Person selbst, so
wenig die Bühne die Welt ist: eben so wenig ist die Sprache
der Gedanke; sondern wie die Bühne die Welt bedeutet, eben
so bedeutet die Sprache den Gedanken. Wir werden durch die
Bühne sogar an einen vollen Gegensatz zwischen Wirklichkeit
und Schein erinnert; denn darstellen heißt bloß den Schein er-
regen. Und wir wissen ja, wie oft leider Worte Gedanken nur
darstellen, d. h. den Schein von Gedanken erregen.

Darstellen heißt allerdings ursprünglich eine Sache hinstel-
len, vor Augen stellen. Niemals aber wird der Gedanke so
nackt hingestellt, wie er geboren ist; nie tritt er aus dem Ver-
stecke des Geistes, aus der Stätte seiner Empfängniß hervor.
Eben darum bedürfen wir eines Darstellungsmittels, welches die

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[357/0395] ten. Die Dialektik beruht also auf der Anerkennung der Un- denkbarkeit des Widerspruchs, und da nun die dialektische Phi- losophie nichts anderes thut, als Widersprüche aufdecken, ohne ihnen je zu entfliehen, ohne sie je zu lösen, von ihnen im Kreise herumgejagt: so verurtheilt sie sich selbst als die Philosophie des Falschen, welche nur erst Vorbereitung der wahren Philo- sophie ist. Da das Gesetz des Widerspruchs unserm Geiste so unver- letzlich angehört, so sucht er, so oft er sich in einem Wider- spruche befangen sieht, denselben aufzulösen, indem er die ihm zu Grunde liegenden Beziehungen ändert. Diese Aenderung, Verbesserung der Beziehungen wird sich aber nicht immer durch bloße Bearbeitung der Begriffe, durch Spalten und neues Spal- ten bewirken lassen; sondern es werden neue Thatsachen hinzu- treten, und alte Thatsachen von neuem untersucht und in neuen Begriffen erfaßt werden müssen. Wenn wir nun von Laut- und innerer Sprachform reden, also überhaupt die Sprache Form nennen: so müssen wir uns klar zu machen suchen, in welchen Beziehungen hier Stoff und Form auftreten, und wo der Stoff zur innern Sprachform liegt. §. 126. Die Sprache als Form des Gedankens. Man hat die Sprache Form des Gedankens genannt, inso- fern sie ihn darstellt; der Gedanke umgekehrt sei der darge- stellte Inhalt. Wir können uns, denke ich, dies recht wohl ge- fallen lassen. Aber wir müssen uns klar vorhalten, was hierin liegt. So gut wie die Sprache Darstellung von Gedanken ist, ist auch die Bühne Darstellung der Welt, das Portrait Darstel- lung einer Person. So wenig das Portrait die Person selbst, so wenig die Bühne die Welt ist: eben so wenig ist die Sprache der Gedanke; sondern wie die Bühne die Welt bedeutet, eben so bedeutet die Sprache den Gedanken. Wir werden durch die Bühne sogar an einen vollen Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Schein erinnert; denn darstellen heißt bloß den Schein er- regen. Und wir wissen ja, wie oft leider Worte Gedanken nur darstellen, d. h. den Schein von Gedanken erregen. Darstellen heißt allerdings ursprünglich eine Sache hinstel- len, vor Augen stellen. Niemals aber wird der Gedanke so nackt hingestellt, wie er geboren ist; nie tritt er aus dem Ver- stecke des Geistes, aus der Stätte seiner Empfängniß hervor. Eben darum bedürfen wir eines Darstellungsmittels, welches die

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/395>, abgerufen am 29.03.2024.