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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Geistes einen eigenthümlichen und wesentlichen Ahschnitt in der
Psychologie bildet. Mit unserer ganzen Darlegung der Sprache
und Grammatik überhaupt bis an die Wirklichkeit der verschie-
denen Sprachen bewegten wir uns durchaus auf psychologischem
Gebiete. Auch mit der Verschiedenheit der Sprachen treten wir
noch nicht aus diesem Gebiete heraus; wir verlassen nur die
eine Provinz desselben, auf welche heute allerdings die Psycho-
logie noch beschränkt ist, treten aber in eine andere, die nicht
minder zu ihm gehört, obwohl sie nur erst sehr gelegentlich
bearbeitet worden ist. Die heutige Psychologie nämlich ist in-
dividuelle
Psychologie, d. h. ihr Gegenstand ist das seelische
Individuum, wie es sich ganz allgemein in jedem beseelten We-
sen, dem Menschen und auch, bis auf einen gewissen Punkt,
dem Thiere offenbart. Nun ist es aber eine wesentliche Bestim-
mung der menschlichen Seele, nicht ein für sich allein stehen-
des Individuum zu sein, sondern einer Gemeinschaft anzugehö-
ren, und zwar zunächst, leiblich und seelisch, einem Volke.
Und so verlangt die individuelle Psychologie wesentlich eine
Ergänzung durch die Völkerpsychologie. Durch Geburt
gehört der Mensch einem Volke an, und er wird hierdurch in
seiner geistigen Entwickelung mannigfach bestimmt. Das Indi-
viduum kann also gar nicht vollständig begriffen werden ohne
Rücksicht auf die geistige Gesammtheit, in der es entstanden
ist und lebt.

§. 138. Aufgabe der Völkerpsychologie überhaupt.

Die Völkerpsychologie, sagen wir, ist nicht nur eine neue
Wissenschaft; sondern sie ist noch nicht einmal als solche, als
ein zusammenhängendes System von Begriffen und Erkenntnis-
sen, gegründet. Wir wissen wenigstens noch immer nichts wei-
ter darüber anzuführen, als einen Aufsatz von Dr. Lazarus im
deutschen Museum von 1851. Andeutungen zu einer solchen
Wissenschaft finden sich indessen allerdings bei unsern großen
Denkern. Ich erwähne hier nur Herbarts Bemerkungen über
die Anwendung der mathematischen Psychologie auf staatliche
und gesellschaftliche Verhältnisse in der Einleitung zu seiner Psy-
chologie; und führe noch eine sehr klare Aeußerung über un-
sere Wissenschaft von Carl Ritter an, dem Schöpfer der wis-
senschaftlichen Geographie, einem Naturforscher, der umfassende
Kenntniß und Tiefe des Gedankens in seltener Weise vereinigt.
Er sagt (Erdkunde I, S. 19), er mache es sich zur Aufgabe:

Geistes einen eigenthümlichen und wesentlichen Ahschnitt in der
Psychologie bildet. Mit unserer ganzen Darlegung der Sprache
und Grammatik überhaupt bis an die Wirklichkeit der verschie-
denen Sprachen bewegten wir uns durchaus auf psychologischem
Gebiete. Auch mit der Verschiedenheit der Sprachen treten wir
noch nicht aus diesem Gebiete heraus; wir verlassen nur die
eine Provinz desselben, auf welche heute allerdings die Psycho-
logie noch beschränkt ist, treten aber in eine andere, die nicht
minder zu ihm gehört, obwohl sie nur erst sehr gelegentlich
bearbeitet worden ist. Die heutige Psychologie nämlich ist in-
dividuelle
Psychologie, d. h. ihr Gegenstand ist das seelische
Individuum, wie es sich ganz allgemein in jedem beseelten We-
sen, dem Menschen und auch, bis auf einen gewissen Punkt,
dem Thiere offenbart. Nun ist es aber eine wesentliche Bestim-
mung der menschlichen Seele, nicht ein für sich allein stehen-
des Individuum zu sein, sondern einer Gemeinschaft anzugehö-
ren, und zwar zunächst, leiblich und seelisch, einem Volke.
Und so verlangt die individuelle Psychologie wesentlich eine
Ergänzung durch die Völkerpsychologie. Durch Geburt
gehört der Mensch einem Volke an, und er wird hierdurch in
seiner geistigen Entwickelung mannigfach bestimmt. Das Indi-
viduum kann also gar nicht vollständig begriffen werden ohne
Rücksicht auf die geistige Gesammtheit, in der es entstanden
ist und lebt.

§. 138. Aufgabe der Völkerpsychologie überhaupt.

Die Völkerpsychologie, sagen wir, ist nicht nur eine neue
Wissenschaft; sondern sie ist noch nicht einmal als solche, als
ein zusammenhängendes System von Begriffen und Erkenntnis-
sen, gegründet. Wir wissen wenigstens noch immer nichts wei-
ter darüber anzuführen, als einen Aufsatz von Dr. Lazarus im
deutschen Museum von 1851. Andeutungen zu einer solchen
Wissenschaft finden sich indessen allerdings bei unsern großen
Denkern. Ich erwähne hier nur Herbarts Bemerkungen über
die Anwendung der mathematischen Psychologie auf staatliche
und gesellschaftliche Verhältnisse in der Einleitung zu seiner Psy-
chologie; und führe noch eine sehr klare Aeußerung über un-
sere Wissenschaft von Carl Ritter an, dem Schöpfer der wis-
senschaftlichen Geographie, einem Naturforscher, der umfassende
Kenntniß und Tiefe des Gedankens in seltener Weise vereinigt.
Er sagt (Erdkunde I, S. 19), er mache es sich zur Aufgabe:

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[388/0426] Geistes einen eigenthümlichen und wesentlichen Ahschnitt in der Psychologie bildet. Mit unserer ganzen Darlegung der Sprache und Grammatik überhaupt bis an die Wirklichkeit der verschie- denen Sprachen bewegten wir uns durchaus auf psychologischem Gebiete. Auch mit der Verschiedenheit der Sprachen treten wir noch nicht aus diesem Gebiete heraus; wir verlassen nur die eine Provinz desselben, auf welche heute allerdings die Psycho- logie noch beschränkt ist, treten aber in eine andere, die nicht minder zu ihm gehört, obwohl sie nur erst sehr gelegentlich bearbeitet worden ist. Die heutige Psychologie nämlich ist in- dividuelle Psychologie, d. h. ihr Gegenstand ist das seelische Individuum, wie es sich ganz allgemein in jedem beseelten We- sen, dem Menschen und auch, bis auf einen gewissen Punkt, dem Thiere offenbart. Nun ist es aber eine wesentliche Bestim- mung der menschlichen Seele, nicht ein für sich allein stehen- des Individuum zu sein, sondern einer Gemeinschaft anzugehö- ren, und zwar zunächst, leiblich und seelisch, einem Volke. Und so verlangt die individuelle Psychologie wesentlich eine Ergänzung durch die Völkerpsychologie. Durch Geburt gehört der Mensch einem Volke an, und er wird hierdurch in seiner geistigen Entwickelung mannigfach bestimmt. Das Indi- viduum kann also gar nicht vollständig begriffen werden ohne Rücksicht auf die geistige Gesammtheit, in der es entstanden ist und lebt. §. 138. Aufgabe der Völkerpsychologie überhaupt. Die Völkerpsychologie, sagen wir, ist nicht nur eine neue Wissenschaft; sondern sie ist noch nicht einmal als solche, als ein zusammenhängendes System von Begriffen und Erkenntnis- sen, gegründet. Wir wissen wenigstens noch immer nichts wei- ter darüber anzuführen, als einen Aufsatz von Dr. Lazarus im deutschen Museum von 1851. Andeutungen zu einer solchen Wissenschaft finden sich indessen allerdings bei unsern großen Denkern. Ich erwähne hier nur Herbarts Bemerkungen über die Anwendung der mathematischen Psychologie auf staatliche und gesellschaftliche Verhältnisse in der Einleitung zu seiner Psy- chologie; und führe noch eine sehr klare Aeußerung über un- sere Wissenschaft von Carl Ritter an, dem Schöpfer der wis- senschaftlichen Geographie, einem Naturforscher, der umfassende Kenntniß und Tiefe des Gedankens in seltener Weise vereinigt. Er sagt (Erdkunde I, S. 19), er mache es sich zur Aufgabe:

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/426>, abgerufen am 24.04.2024.