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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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"alle wesentlichen Naturverhältnisse darzulegen, in welche die
Völker auf diesem Erdenrunde gestellt sind, und es sollen aus
diesen alle Hauptrichtungen ihrer entwickelten Zustände, welche
die Natur bedingt, hervorgehen. Wäre dieses Ziel dann wirk-
lich erreicht: so würde eine Seite der Historie im Allgemeinen
einen Fortschritt gewonnen haben, indem das erregende Wesen
der Antriebe der äußern Naturverhältnisse auf den Entwicke-
lungsgang der Menschheit, welche dem Forscher der Alten schon
mehr als der Neuern Geschichte manche Aufschlüsse gegeben
haben, dadurch zu größerer Klarheit gekommen sein müßte.
Es bliebe ein anderes Gebiet, das der innern Antriebe der
von dem Aeußern unabhängigen rein geistigen Na-
tur in der Entwickelung des Menschen, der Völker
und Staaten,
zur vergleichenden Untersuchung übrig, als
würdiger Gegenstand einer leicht noch glücklichern Betrachtung
und nicht minder lohnenden Forschung". So spricht ein Mann,
der bei seiner speciellen Wissenschaft die Gesammtheit der wis-
senschaftlichen Bestrebungen im Auge behält. Seine Andeutung
genügt wohl, das Wesen unserer Wissenschaft klar zu machen.

Wie könnten wir endlich Humboldts vergessen, der die sie-
ben ersten Paragraphen seines großen Werkes ganz Betrach-
tungen gewidmet hat, welche die Grundlage der Völkerpsycho-
logie bilden, wie: der Zusammenhang der Völker zu einer Ein-
heit des Menschengeschlechts, Zusammenwirken der Individuen
und Nationen u. s. w.

§. 139. Das Volk als geistige Individualität.

Das Volk ist das Subject der Völkerpsychologie. Es ist
aber, wie der einzelne Mensch, im Verhältnisse zu den andern
Völkern und zur Menschheit eine Individualität. Die Grund-
lage derselben sind die eigenthümlichen körperlichen Verhält-
nisse, sowohl die leiblichen, als die der umgebenden Natur. Diese
darzulegen -- und wer könnte ihre Wichtigkeit für das geistige
Leben läugnen? -- ist Aufgabe der Erdkunde und physischen
Ethnologie. Auf dieser körperlichen Grundlage, zum Theil zwar
sicherlich unabhängig von derselben, aber immer in Wechselwir-
kung mit ihr, von ihr bestimmt und sie bestimmend, und von
dieser selbstthätigen Bestimmung die Rückwirkung empfindend,
erhebt sich die geistige Individualität des Volkes, der Gegen-
stand der Völkerpsychologie.

„alle wesentlichen Naturverhältnisse darzulegen, in welche die
Völker auf diesem Erdenrunde gestellt sind, und es sollen aus
diesen alle Hauptrichtungen ihrer entwickelten Zustände, welche
die Natur bedingt, hervorgehen. Wäre dieses Ziel dann wirk-
lich erreicht: so würde eine Seite der Historie im Allgemeinen
einen Fortschritt gewonnen haben, indem das erregende Wesen
der Antriebe der äußern Naturverhältnisse auf den Entwicke-
lungsgang der Menschheit, welche dem Forscher der Alten schon
mehr als der Neuern Geschichte manche Aufschlüsse gegeben
haben, dadurch zu größerer Klarheit gekommen sein müßte.
Es bliebe ein anderes Gebiet, das der innern Antriebe der
von dem Aeußern unabhängigen rein geistigen Na-
tur in der Entwickelung des Menschen, der Völker
und Staaten,
zur vergleichenden Untersuchung übrig, als
würdiger Gegenstand einer leicht noch glücklichern Betrachtung
und nicht minder lohnenden Forschung“. So spricht ein Mann,
der bei seiner speciellen Wissenschaft die Gesammtheit der wis-
senschaftlichen Bestrebungen im Auge behält. Seine Andeutung
genügt wohl, das Wesen unserer Wissenschaft klar zu machen.

Wie könnten wir endlich Humboldts vergessen, der die sie-
ben ersten Paragraphen seines großen Werkes ganz Betrach-
tungen gewidmet hat, welche die Grundlage der Völkerpsycho-
logie bilden, wie: der Zusammenhang der Völker zu einer Ein-
heit des Menschengeschlechts, Zusammenwirken der Individuen
und Nationen u. s. w.

§. 139. Das Volk als geistige Individualität.

Das Volk ist das Subject der Völkerpsychologie. Es ist
aber, wie der einzelne Mensch, im Verhältnisse zu den andern
Völkern und zur Menschheit eine Individualität. Die Grund-
lage derselben sind die eigenthümlichen körperlichen Verhält-
nisse, sowohl die leiblichen, als die der umgebenden Natur. Diese
darzulegen — und wer könnte ihre Wichtigkeit für das geistige
Leben läugnen? — ist Aufgabe der Erdkunde und physischen
Ethnologie. Auf dieser körperlichen Grundlage, zum Theil zwar
sicherlich unabhängig von derselben, aber immer in Wechselwir-
kung mit ihr, von ihr bestimmt und sie bestimmend, und von
dieser selbstthätigen Bestimmung die Rückwirkung empfindend,
erhebt sich die geistige Individualität des Volkes, der Gegen-
stand der Völkerpsychologie.

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[389/0427] „alle wesentlichen Naturverhältnisse darzulegen, in welche die Völker auf diesem Erdenrunde gestellt sind, und es sollen aus diesen alle Hauptrichtungen ihrer entwickelten Zustände, welche die Natur bedingt, hervorgehen. Wäre dieses Ziel dann wirk- lich erreicht: so würde eine Seite der Historie im Allgemeinen einen Fortschritt gewonnen haben, indem das erregende Wesen der Antriebe der äußern Naturverhältnisse auf den Entwicke- lungsgang der Menschheit, welche dem Forscher der Alten schon mehr als der Neuern Geschichte manche Aufschlüsse gegeben haben, dadurch zu größerer Klarheit gekommen sein müßte. Es bliebe ein anderes Gebiet, das der innern Antriebe der von dem Aeußern unabhängigen rein geistigen Na- tur in der Entwickelung des Menschen, der Völker und Staaten, zur vergleichenden Untersuchung übrig, als würdiger Gegenstand einer leicht noch glücklichern Betrachtung und nicht minder lohnenden Forschung“. So spricht ein Mann, der bei seiner speciellen Wissenschaft die Gesammtheit der wis- senschaftlichen Bestrebungen im Auge behält. Seine Andeutung genügt wohl, das Wesen unserer Wissenschaft klar zu machen. Wie könnten wir endlich Humboldts vergessen, der die sie- ben ersten Paragraphen seines großen Werkes ganz Betrach- tungen gewidmet hat, welche die Grundlage der Völkerpsycho- logie bilden, wie: der Zusammenhang der Völker zu einer Ein- heit des Menschengeschlechts, Zusammenwirken der Individuen und Nationen u. s. w. §. 139. Das Volk als geistige Individualität. Das Volk ist das Subject der Völkerpsychologie. Es ist aber, wie der einzelne Mensch, im Verhältnisse zu den andern Völkern und zur Menschheit eine Individualität. Die Grund- lage derselben sind die eigenthümlichen körperlichen Verhält- nisse, sowohl die leiblichen, als die der umgebenden Natur. Diese darzulegen — und wer könnte ihre Wichtigkeit für das geistige Leben läugnen? — ist Aufgabe der Erdkunde und physischen Ethnologie. Auf dieser körperlichen Grundlage, zum Theil zwar sicherlich unabhängig von derselben, aber immer in Wechselwir- kung mit ihr, von ihr bestimmt und sie bestimmend, und von dieser selbstthätigen Bestimmung die Rückwirkung empfindend, erhebt sich die geistige Individualität des Volkes, der Gegen- stand der Völkerpsychologie.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/427>, abgerufen am 16.04.2024.