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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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§. 21. Einheit von Grammatik und Logik nach Becker.

Man sieht leicht, wie durch diesen letzten Punkt alles
bisher von uns Betrachtete erst seine volle Bestätigung und ei-
gentliche Bedeutung erhält. Wir haben ihm daher vorzügliche
Sorgfalt zuzuwenden. Wir wollen Becker ausführlich hören. Er
läßt sich über das Verhältniß zwischen Grammatik und Logik
folgendermaßen aus (§. 10. Schluß): "Wie die Sprache mit dem
Gedanken, so steht die Grammatik mit der Logik in einer in-
nigen Beziehung; und die Grammatiken haben sich immer, wenn
sie nicht bei der rein etymologischen Betrachtung stehen blieben,
bei der Logik Rathes erholt. In dem griechischen Alterthume
stand die Logik noch mit der Grammatik in engem Bunde, und
sie gingen mit einander Hand in Hand. Dieses natürliche Bünd-
niß mußte bestehen, so lange man sein Augenmerk vorzüglich
auf die genetischen Verhältnisse des Gedankens und der Spra-
che richtete. Als aber einerseits die Logik die Formen der
Gedanken und Begriffe, und andererseits die Grammatik die
Formen der Wörter und ihrer Verbindungen nur als ein
Gegebenes auffaßte, und vorzüglich die Unterscheidung der
so aufgefaßten Formen zu ihrer Aufgabe machte, versank die
Logik ebenso wie die Grammatik in einen Zustand der Starr-
heit. Die Logik der Schule und die Grammatik der Schule
verstanden einander nicht mehr, und jede ging ihren eigenen
Weg. Auch war die Logik der Schule nicht die Logik der
Sprache; darum konnte die Grammatik von ihr wenig Vortheil
ziehen. Wie wenig die Logik der Schule mit der Logik der
Sprache übereinstimmt, tritt auf eine schlagende Weise hervor
in einer Erfahrung, die Sicard bei seinen Taubstummen machte.
Er hatte nämlich die Taubstummen gelehrt, in einer für sie er-
fundenen Zeichensprache die Zeichen immer nach einer den Ge-
setzen der Logik entsprechenden Aufeinanderfolge der Begriffe
zu gebrauchen; er wurde aber bald gewahr, daß die Taubstum-
men, wenn sie in den Erholungsstunden sich selbst überlassen
waren, die Zeichen in einer nach ganz anderen Gesetzen be-
stimmten Folge gebrauchten. Die Logik der Schule hat der
Grammatik bisher wenig Gedeihen gebracht; und man kann hier
die Frage aufwerfen, ob überhaupt die Grammatik mehr von der
Logik, oder die Logik mehr von der Grammatik zu lernen habe.
Insofern die Logik uns die Einsicht in die genetischen und
darum organischen Verhältnisse der Gedanken und Begriffe auf-

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§. 21. Einheit von Grammatik und Logik nach Becker.

Man sieht leicht, wie durch diesen letzten Punkt alles
bisher von uns Betrachtete erst seine volle Bestätigung und ei-
gentliche Bedeutung erhält. Wir haben ihm daher vorzügliche
Sorgfalt zuzuwenden. Wir wollen Becker ausführlich hören. Er
läßt sich über das Verhältniß zwischen Grammatik und Logik
folgendermaßen aus (§. 10. Schluß): „Wie die Sprache mit dem
Gedanken, so steht die Grammatik mit der Logik in einer in-
nigen Beziehung; und die Grammatiken haben sich immer, wenn
sie nicht bei der rein etymologischen Betrachtung stehen blieben,
bei der Logik Rathes erholt. In dem griechischen Alterthume
stand die Logik noch mit der Grammatik in engem Bunde, und
sie gingen mit einander Hand in Hand. Dieses natürliche Bünd-
niß mußte bestehen, so lange man sein Augenmerk vorzüglich
auf die genetischen Verhältnisse des Gedankens und der Spra-
che richtete. Als aber einerseits die Logik die Formen der
Gedanken und Begriffe, und andererseits die Grammatik die
Formen der Wörter und ihrer Verbindungen nur als ein
Gegebenes auffaßte, und vorzüglich die Unterscheidung der
so aufgefaßten Formen zu ihrer Aufgabe machte, versank die
Logik ebenso wie die Grammatik in einen Zustand der Starr-
heit. Die Logik der Schule und die Grammatik der Schule
verstanden einander nicht mehr, und jede ging ihren eigenen
Weg. Auch war die Logik der Schule nicht die Logik der
Sprache; darum konnte die Grammatik von ihr wenig Vortheil
ziehen. Wie wenig die Logik der Schule mit der Logik der
Sprache übereinstimmt, tritt auf eine schlagende Weise hervor
in einer Erfahrung, die Sicard bei seinen Taubstummen machte.
Er hatte nämlich die Taubstummen gelehrt, in einer für sie er-
fundenen Zeichensprache die Zeichen immer nach einer den Ge-
setzen der Logik entsprechenden Aufeinanderfolge der Begriffe
zu gebrauchen; er wurde aber bald gewahr, daß die Taubstum-
men, wenn sie in den Erholungsstunden sich selbst überlassen
waren, die Zeichen in einer nach ganz anderen Gesetzen be-
stimmten Folge gebrauchten. Die Logik der Schule hat der
Grammatik bisher wenig Gedeihen gebracht; und man kann hier
die Frage aufwerfen, ob überhaupt die Grammatik mehr von der
Logik, oder die Logik mehr von der Grammatik zu lernen habe.
Insofern die Logik uns die Einsicht in die genetischen und
darum organischen Verhältnisse der Gedanken und Begriffe auf-

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[49/0087] §. 21. Einheit von Grammatik und Logik nach Becker. Man sieht leicht, wie durch diesen letzten Punkt alles bisher von uns Betrachtete erst seine volle Bestätigung und ei- gentliche Bedeutung erhält. Wir haben ihm daher vorzügliche Sorgfalt zuzuwenden. Wir wollen Becker ausführlich hören. Er läßt sich über das Verhältniß zwischen Grammatik und Logik folgendermaßen aus (§. 10. Schluß): „Wie die Sprache mit dem Gedanken, so steht die Grammatik mit der Logik in einer in- nigen Beziehung; und die Grammatiken haben sich immer, wenn sie nicht bei der rein etymologischen Betrachtung stehen blieben, bei der Logik Rathes erholt. In dem griechischen Alterthume stand die Logik noch mit der Grammatik in engem Bunde, und sie gingen mit einander Hand in Hand. Dieses natürliche Bünd- niß mußte bestehen, so lange man sein Augenmerk vorzüglich auf die genetischen Verhältnisse des Gedankens und der Spra- che richtete. Als aber einerseits die Logik die Formen der Gedanken und Begriffe, und andererseits die Grammatik die Formen der Wörter und ihrer Verbindungen nur als ein Gegebenes auffaßte, und vorzüglich die Unterscheidung der so aufgefaßten Formen zu ihrer Aufgabe machte, versank die Logik ebenso wie die Grammatik in einen Zustand der Starr- heit. Die Logik der Schule und die Grammatik der Schule verstanden einander nicht mehr, und jede ging ihren eigenen Weg. Auch war die Logik der Schule nicht die Logik der Sprache; darum konnte die Grammatik von ihr wenig Vortheil ziehen. Wie wenig die Logik der Schule mit der Logik der Sprache übereinstimmt, tritt auf eine schlagende Weise hervor in einer Erfahrung, die Sicard bei seinen Taubstummen machte. Er hatte nämlich die Taubstummen gelehrt, in einer für sie er- fundenen Zeichensprache die Zeichen immer nach einer den Ge- setzen der Logik entsprechenden Aufeinanderfolge der Begriffe zu gebrauchen; er wurde aber bald gewahr, daß die Taubstum- men, wenn sie in den Erholungsstunden sich selbst überlassen waren, die Zeichen in einer nach ganz anderen Gesetzen be- stimmten Folge gebrauchten. Die Logik der Schule hat der Grammatik bisher wenig Gedeihen gebracht; und man kann hier die Frage aufwerfen, ob überhaupt die Grammatik mehr von der Logik, oder die Logik mehr von der Grammatik zu lernen habe. Insofern die Logik uns die Einsicht in die genetischen und darum organischen Verhältnisse der Gedanken und Begriffe auf- 4

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/87>, abgerufen am 19.04.2024.