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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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chere Darstellung jenes "natürlichen Systems" wird in dem
Werke "das Wort" gegeben. Der Wortschatz wird als orga-
nisches Ganzes dargestellt, und jedes Glied ist als kleiner Or-
ganismus dem Ganzen nachgebildet. Wir wählen nur als Bei-
spiel den Kardinalbegriff "gehen", welcher ein solches Organ
des ganzen Organismus des Wortschatzes ist. Die Besonder-
heiten, Scheidungen des genannten Kardinalbegriffs werden dort
(S. 104) folgendermaßen aufgestellt: "schreiten, kriechen, schlei-
chen, treten, gleiten, hinken, kehren, wenden, drehen, biegen,
wanken, winken, wachen, regen, leben, fahren, ziehen, reisen,
steigen, heben, tragen, sinken, fallen, schweben, schweifen, ra-
gen u. s. f." Dies soll organische Scheidung sein! diese zusam-
mengewürfelte Masse! Was bindet diese Wörter zusammen? Sie
sind alle Ausdrücke für die Bewegung lebender Wesen, sagt
Becker. Dieses Band ist eine ziemlich leere Abstraction. Sie
wird aber noch viel leerer, wenn man sieht, wie man auf den
ersten Blick thut, daß Beckers Angabe, hier die abgeleiteten
Begriffe der Bewegung des organischen Lebens zu geben, falsch
ist, da ja "gleiten, kehren, wenden, drehen, biegen, wanken, sin-
ken, fallen, schweben, ragen", also von 26 Begriffen zehn, Bewe-
gungen lebloser Dinge bezeichnen, wenigstens eben so gut bezeich-
nen können. Hier ist also die "eine das Ganze und alle Glieder
durchdringende Kraft" nichts als die Abstraction der Bewegung.
Diese Abstraction wird aber völlig leer, reines Nichts, dadurch
daß vermöge jener progressio ad contrarium (lucus a non lu-
cendo
) auch "stehen, sitzen, liegen, weilen, wohnen, schlafen,
zögern, träge sein, fest sein, erstarren, hangen" zu demselben
Organ gehören, wo auch abermals unter elf Begriffen fünf die
todte Ruhe oder Bewegung bezeichnen. -- Das "u. s. f." am
Ende haben wir durch Typen auszeichnen lassen; in ihm liegt
die Selbstanklage Beckers. Denn wo es sich um die unorgani-
schen Bewegungen handelt, da haben wir die Form einer ins
Unendliche auslaufenden Linie. Dies wird durch u. s. f. ausge-
drückt; der Organismus aber schließt sich in sich zusammen,
ist ein Ganzes und wird darum durch das u. s. f. geläugnet.
Nicht einmal der Gegensatz bindet jene Wörter zusammen; sie
verhalten sich als reine Andere, als verschieden gegen einander,
als gleichgültige Sandkörner eines Sandhaufens.

chere Darstellung jenes „natürlichen Systems“ wird in dem
Werke „das Wort“ gegeben. Der Wortschatz wird als orga-
nisches Ganzes dargestellt, und jedes Glied ist als kleiner Or-
ganismus dem Ganzen nachgebildet. Wir wählen nur als Bei-
spiel den Kardinalbegriff „gehen“, welcher ein solches Organ
des ganzen Organismus des Wortschatzes ist. Die Besonder-
heiten, Scheidungen des genannten Kardinalbegriffs werden dort
(S. 104) folgendermaßen aufgestellt: „schreiten, kriechen, schlei-
chen, treten, gleiten, hinken, kehren, wenden, drehen, biegen,
wanken, winken, wachen, regen, leben, fahren, ziehen, reisen,
steigen, heben, tragen, sinken, fallen, schweben, schweifen, ra-
gen u. s. f.“ Dies soll organische Scheidung sein! diese zusam-
mengewürfelte Masse! Was bindet diese Wörter zusammen? Sie
sind alle Ausdrücke für die Bewegung lebender Wesen, sagt
Becker. Dieses Band ist eine ziemlich leere Abstraction. Sie
wird aber noch viel leerer, wenn man sieht, wie man auf den
ersten Blick thut, daß Beckers Angabe, hier die abgeleiteten
Begriffe der Bewegung des organischen Lebens zu geben, falsch
ist, da ja „gleiten, kehren, wenden, drehen, biegen, wanken, sin-
ken, fallen, schweben, ragen“, also von 26 Begriffen zehn, Bewe-
gungen lebloser Dinge bezeichnen, wenigstens eben so gut bezeich-
nen können. Hier ist also die „eine das Ganze und alle Glieder
durchdringende Kraft“ nichts als die Abstraction der Bewegung.
Diese Abstraction wird aber völlig leer, reines Nichts, dadurch
daß vermöge jener progressio ad contrarium (lucus a non lu-
cendo
) auch „stehen, sitzen, liegen, weilen, wohnen, schlafen,
zögern, träge sein, fest sein, erstarren, hangen“ zu demselben
Organ gehören, wo auch abermals unter elf Begriffen fünf die
todte Ruhe oder Bewegung bezeichnen. — Das „u. s. f.“ am
Ende haben wir durch Typen auszeichnen lassen; in ihm liegt
die Selbstanklage Beckers. Denn wo es sich um die unorgani-
schen Bewegungen handelt, da haben wir die Form einer ins
Unendliche auslaufenden Linie. Dies wird durch u. s. f. ausge-
drückt; der Organismus aber schließt sich in sich zusammen,
ist ein Ganzes und wird darum durch das u. s. f. geläugnet.
Nicht einmal der Gegensatz bindet jene Wörter zusammen; sie
verhalten sich als reine Andere, als verschieden gegen einander,
als gleichgültige Sandkörner eines Sandhaufens.

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[64/0102] chere Darstellung jenes „natürlichen Systems“ wird in dem Werke „das Wort“ gegeben. Der Wortschatz wird als orga- nisches Ganzes dargestellt, und jedes Glied ist als kleiner Or- ganismus dem Ganzen nachgebildet. Wir wählen nur als Bei- spiel den Kardinalbegriff „gehen“, welcher ein solches Organ des ganzen Organismus des Wortschatzes ist. Die Besonder- heiten, Scheidungen des genannten Kardinalbegriffs werden dort (S. 104) folgendermaßen aufgestellt: „schreiten, kriechen, schlei- chen, treten, gleiten, hinken, kehren, wenden, drehen, biegen, wanken, winken, wachen, regen, leben, fahren, ziehen, reisen, steigen, heben, tragen, sinken, fallen, schweben, schweifen, ra- gen u. s. f.“ Dies soll organische Scheidung sein! diese zusam- mengewürfelte Masse! Was bindet diese Wörter zusammen? Sie sind alle Ausdrücke für die Bewegung lebender Wesen, sagt Becker. Dieses Band ist eine ziemlich leere Abstraction. Sie wird aber noch viel leerer, wenn man sieht, wie man auf den ersten Blick thut, daß Beckers Angabe, hier die abgeleiteten Begriffe der Bewegung des organischen Lebens zu geben, falsch ist, da ja „gleiten, kehren, wenden, drehen, biegen, wanken, sin- ken, fallen, schweben, ragen“, also von 26 Begriffen zehn, Bewe- gungen lebloser Dinge bezeichnen, wenigstens eben so gut bezeich- nen können. Hier ist also die „eine das Ganze und alle Glieder durchdringende Kraft“ nichts als die Abstraction der Bewegung. Diese Abstraction wird aber völlig leer, reines Nichts, dadurch daß vermöge jener progressio ad contrarium (lucus a non lu- cendo) auch „stehen, sitzen, liegen, weilen, wohnen, schlafen, zögern, träge sein, fest sein, erstarren, hangen“ zu demselben Organ gehören, wo auch abermals unter elf Begriffen fünf die todte Ruhe oder Bewegung bezeichnen. — Das „u. s. f.“ am Ende haben wir durch Typen auszeichnen lassen; in ihm liegt die Selbstanklage Beckers. Denn wo es sich um die unorgani- schen Bewegungen handelt, da haben wir die Form einer ins Unendliche auslaufenden Linie. Dies wird durch u. s. f. ausge- drückt; der Organismus aber schließt sich in sich zusammen, ist ein Ganzes und wird darum durch das u. s. f. geläugnet. Nicht einmal der Gegensatz bindet jene Wörter zusammen; sie verhalten sich als reine Andere, als verschieden gegen einander, als gleichgültige Sandkörner eines Sandhaufens.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/102>, abgerufen am 29.03.2024.