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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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nicht im strengen, gespannten Gegensatze zu einander stehen;
sondern indem sie alle einander gleichgültige Wiederholungen
desselben einen Gegensatzes sind, sind sie bloß überhaupt ver-
schieden, andere gegen einander: a ist nicht b, nicht c u. s. w.

Selbst diese Wiederholung aber ist -- ich sage nicht: noch
nicht als nothwendig nachgewiesen; sondern sie ist -- nach der
Voraussetzung unmöglich. Denn wie sollen "unendlich mannig-
faltige Verhältnisse in den besonderen Dingen" entstehen? wie
sind die besonderen Dinge entstanden? Ist es nicht wieder so-
phistische Tautologie, wenn, indem gezeigt werden soll, wodurch
die reale Welt geworden ist, die besonderen Dinge schon vor-
ausgesetzt werden, in denen der die Welt schaffende Gegensatz
von Thätigkeit und Sein sein Wesen treibt?

Der höchst schwierige, immer wichtigste Punkt, das Princip
der Besonderung im Allgemeinen, kümmert Becker nie; und
darum eben bleibt er ewig in den leersten allgemeinen Formeln.
Was soll man dazu sagen, wenn Becker hier die Besonderung
aus dem allgemeinsten Principe mit folgendem Satze abfertigt:
"und das Sein ist dasjenige Moment der Dinge, durch welches
sich das Allgemeine in Besonderes scheidet." Das Sein ist ja
selbst nur die gehemmte Thätigkeit; wie entsteht also durch das
Sein eine Scheidung des Allgemeinen in Besonderes?

Wie dem aber auch sei, wir gestehen am Ende zu, es giebt
besondere reale Dinge. "Die Thätigkeit ist in den realen Din-
gen überall nur eine in das Sein versenkte und durch das Sein
gebundene Thätigkeit;" und umgekehrt kein Sein ohne alle Thä-
tigkeit. "In allen Dingen ist noch das Allgemeine -- die Thä-
tigkeit; aber je weiter sich die Dinge in der Besonderheit ent-
wickeln, desto mehr wird in ihnen das Sein das vorwaltende
Moment. -- Die reale Entwickelung der Dinge geht von der
mit dem allgemeinen Gegensatze von Thätigkeit und Sein ge-
gebenen Einheit aus; und das Allgemeine, die Thätigkeit,
strebt überall sich zu versenken in die Besonderheit des Seins."
Wir haben uns also nach Becker zu denken: die Thätigkeit
hemmt sich und wird so Materie; doch das genügt der Thätig-
keit noch nicht, sie muß mehr Sein haben und versenkt sich in
das Thier-Sein; noch nicht genug, sie stürzt sich in das Wir-
belthier-Sein, dann in das Säugethier-Sein, endlich in dieses in-
dividuelle Sein. -- Und das wäre Philosophie?

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nicht im strengen, gespannten Gegensatze zu einander stehen;
sondern indem sie alle einander gleichgültige Wiederholungen
desselben einen Gegensatzes sind, sind sie bloß überhaupt ver-
schieden, andere gegen einander: a ist nicht b, nicht c u. s. w.

Selbst diese Wiederholung aber ist — ich sage nicht: noch
nicht als nothwendig nachgewiesen; sondern sie ist — nach der
Voraussetzung unmöglich. Denn wie sollen „unendlich mannig-
faltige Verhältnisse in den besonderen Dingen“ entstehen? wie
sind die besonderen Dinge entstanden? Ist es nicht wieder so-
phistische Tautologie, wenn, indem gezeigt werden soll, wodurch
die reale Welt geworden ist, die besonderen Dinge schon vor-
ausgesetzt werden, in denen der die Welt schaffende Gegensatz
von Thätigkeit und Sein sein Wesen treibt?

Der höchst schwierige, immer wichtigste Punkt, das Princip
der Besonderung im Allgemeinen, kümmert Becker nie; und
darum eben bleibt er ewig in den leersten allgemeinen Formeln.
Was soll man dazu sagen, wenn Becker hier die Besonderung
aus dem allgemeinsten Principe mit folgendem Satze abfertigt:
„und das Sein ist dasjenige Moment der Dinge, durch welches
sich das Allgemeine in Besonderes scheidet.“ Das Sein ist ja
selbst nur die gehemmte Thätigkeit; wie entsteht also durch das
Sein eine Scheidung des Allgemeinen in Besonderes?

Wie dem aber auch sei, wir gestehen am Ende zu, es giebt
besondere reale Dinge. „Die Thätigkeit ist in den realen Din-
gen überall nur eine in das Sein versenkte und durch das Sein
gebundene Thätigkeit;“ und umgekehrt kein Sein ohne alle Thä-
tigkeit. „In allen Dingen ist noch das Allgemeine — die Thä-
tigkeit; aber je weiter sich die Dinge in der Besonderheit ent-
wickeln, desto mehr wird in ihnen das Sein das vorwaltende
Moment. — Die reale Entwickelung der Dinge geht von der
mit dem allgemeinen Gegensatze von Thätigkeit und Sein ge-
gebenen Einheit aus; und das Allgemeine, die Thätigkeit,
strebt überall sich zu versenken in die Besonderheit des Seins.“
Wir haben uns also nach Becker zu denken: die Thätigkeit
hemmt sich und wird so Materie; doch das genügt der Thätig-
keit noch nicht, sie muß mehr Sein haben und versenkt sich in
das Thier-Sein; noch nicht genug, sie stürzt sich in das Wir-
belthier-Sein, dann in das Säugethier-Sein, endlich in dieses in-
dividuelle Sein. — Und das wäre Philosophie?

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[83/0121] nicht im strengen, gespannten Gegensatze zu einander stehen; sondern indem sie alle einander gleichgültige Wiederholungen desselben einen Gegensatzes sind, sind sie bloß überhaupt ver- schieden, andere gegen einander: a ist nicht b, nicht c u. s. w. Selbst diese Wiederholung aber ist — ich sage nicht: noch nicht als nothwendig nachgewiesen; sondern sie ist — nach der Voraussetzung unmöglich. Denn wie sollen „unendlich mannig- faltige Verhältnisse in den besonderen Dingen“ entstehen? wie sind die besonderen Dinge entstanden? Ist es nicht wieder so- phistische Tautologie, wenn, indem gezeigt werden soll, wodurch die reale Welt geworden ist, die besonderen Dinge schon vor- ausgesetzt werden, in denen der die Welt schaffende Gegensatz von Thätigkeit und Sein sein Wesen treibt? Der höchst schwierige, immer wichtigste Punkt, das Princip der Besonderung im Allgemeinen, kümmert Becker nie; und darum eben bleibt er ewig in den leersten allgemeinen Formeln. Was soll man dazu sagen, wenn Becker hier die Besonderung aus dem allgemeinsten Principe mit folgendem Satze abfertigt: „und das Sein ist dasjenige Moment der Dinge, durch welches sich das Allgemeine in Besonderes scheidet.“ Das Sein ist ja selbst nur die gehemmte Thätigkeit; wie entsteht also durch das Sein eine Scheidung des Allgemeinen in Besonderes? Wie dem aber auch sei, wir gestehen am Ende zu, es giebt besondere reale Dinge. „Die Thätigkeit ist in den realen Din- gen überall nur eine in das Sein versenkte und durch das Sein gebundene Thätigkeit;“ und umgekehrt kein Sein ohne alle Thä- tigkeit. „In allen Dingen ist noch das Allgemeine — die Thä- tigkeit; aber je weiter sich die Dinge in der Besonderheit ent- wickeln, desto mehr wird in ihnen das Sein das vorwaltende Moment. — Die reale Entwickelung der Dinge geht von der mit dem allgemeinen Gegensatze von Thätigkeit und Sein ge- gebenen Einheit aus; und das Allgemeine, die Thätigkeit, strebt überall sich zu versenken in die Besonderheit des Seins.“ Wir haben uns also nach Becker zu denken: die Thätigkeit hemmt sich und wird so Materie; doch das genügt der Thätig- keit noch nicht, sie muß mehr Sein haben und versenkt sich in das Thier-Sein; noch nicht genug, sie stürzt sich in das Wir- belthier-Sein, dann in das Säugethier-Sein, endlich in dieses in- dividuelle Sein. — Und das wäre Philosophie? 6*

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/121>, abgerufen am 19.04.2024.