Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

gegen wird in dem ersten Erkennen noch nicht als ein wirkli-
cher Begriff gedacht" -- sondern als was? --: "er wird erst
durch das Erkennen" (d. h. durch ein ferneres) "zu einem Be-
griffe; und jeder Begriff eines Seins, wie er sich in dem Worte
-- dem Substantiv -- darstellt, ist Product eines Urtheiles. Ein
wirklicher Begriff eines Seins wird nämlich erst dadurch ge-
bildet, daß ein besonderes Sein, das noch nicht als Begriff ge-
dacht wird, durch das Erkennen in den Begriff einer Thätigkeit
als ein Allgemeines aufgenommen, das Sein unter einer Thätig-
keit begriffen wird." "Nämlich" -- Becker erzählt uns dies. Was
ist denn aber der Begriff des Seins, bevor er wirklicher Begriff
wird? Wenn es Becker nicht sagen will, so zwingen wir es ihm
ab: sinnliche Anschauung. Das Sein wird also zuerst, im ersten
Erkennen, als sinnliche Anschauung gefaßt, und wird durch das
Urtheil zum Begriff. Die Thätigkeit aber ist sogleich und an
sich allgemein und Begriff. Nun sagt aber Becker selbst (S. 72):
"Der Begriff der Bewegung wird in der sinnlichen Anschauung
nie in seiner abstracten Allgemeinheit, sondern immer in einer
concreten Besonderheit aufgefaßt"; also ist auch er im ersten
Erkennen noch nicht Begriff. Damit stürzt freilich auch das
Folgende. Wie soll nun das Sein allgemein, wirklicher Begriff
werden? denn wenn es nun im Urtheil mit der Thätigkeit ver-
bunden wird, so wird nicht ein Besonderes in das Allgemeine
aufgenommen, sondern es werden zwei Besonderheiten verbun-
den, von denen jede die erste und der eigentliche Inhalt des
Urtheils sein kann.

Hier kommt noch ein anderer Punkt in Betracht. Man
thut sich viel darauf zu gute, erkannt zu haben, daß das Ur-
theil früher sei als der Begriff. Becker hat vorzüglich diese
Ansicht befördert, und wir haben ja so eben gelesen, "der erste
Pulsschlag in dem aufgehenden Leben der Intelligenz" sei das
Urtheil. Nun wird aber trotzdem auch von Becker nicht bloß
die Lehre von den Begriffen der vom Urtheile vorausgeschickt,
was sich aus didaktisch-methodischen Gründen rechtfertigen ließe;
sondern Becker kann das Urtheil gar nicht anders begreifen,
denn als eine mechanische Zusammenfassung zweier Begriffe,
die vor dem Urtheile existiren, dem Begriffe des Seins und der
Thätigkeit. Ersterer ist freilich noch kein wirklicher Begriff;
aber doch letzterer. Becker wird zwar, um den Vorwurf des

gegen wird in dem ersten Erkennen noch nicht als ein wirkli-
cher Begriff gedacht“ — sondern als was? —: „er wird erst
durch das Erkennen“ (d. h. durch ein ferneres) „zu einem Be-
griffe; und jeder Begriff eines Seins, wie er sich in dem Worte
— dem Substantiv — darstellt, ist Product eines Urtheiles. Ein
wirklicher Begriff eines Seins wird nämlich erst dadurch ge-
bildet, daß ein besonderes Sein, das noch nicht als Begriff ge-
dacht wird, durch das Erkennen in den Begriff einer Thätigkeit
als ein Allgemeines aufgenommen, das Sein unter einer Thätig-
keit begriffen wird.“ „Nämlich“ — Becker erzählt uns dies. Was
ist denn aber der Begriff des Seins, bevor er wirklicher Begriff
wird? Wenn es Becker nicht sagen will, so zwingen wir es ihm
ab: sinnliche Anschauung. Das Sein wird also zuerst, im ersten
Erkennen, als sinnliche Anschauung gefaßt, und wird durch das
Urtheil zum Begriff. Die Thätigkeit aber ist sogleich und an
sich allgemein und Begriff. Nun sagt aber Becker selbst (S. 72):
„Der Begriff der Bewegung wird in der sinnlichen Anschauung
nie in seiner abstracten Allgemeinheit, sondern immer in einer
concreten Besonderheit aufgefaßt“; also ist auch er im ersten
Erkennen noch nicht Begriff. Damit stürzt freilich auch das
Folgende. Wie soll nun das Sein allgemein, wirklicher Begriff
werden? denn wenn es nun im Urtheil mit der Thätigkeit ver-
bunden wird, so wird nicht ein Besonderes in das Allgemeine
aufgenommen, sondern es werden zwei Besonderheiten verbun-
den, von denen jede die erste und der eigentliche Inhalt des
Urtheils sein kann.

Hier kommt noch ein anderer Punkt in Betracht. Man
thut sich viel darauf zu gute, erkannt zu haben, daß das Ur-
theil früher sei als der Begriff. Becker hat vorzüglich diese
Ansicht befördert, und wir haben ja so eben gelesen, „der erste
Pulsschlag in dem aufgehenden Leben der Intelligenz“ sei das
Urtheil. Nun wird aber trotzdem auch von Becker nicht bloß
die Lehre von den Begriffen der vom Urtheile vorausgeschickt,
was sich aus didaktisch-methodischen Gründen rechtfertigen ließe;
sondern Becker kann das Urtheil gar nicht anders begreifen,
denn als eine mechanische Zusammenfassung zweier Begriffe,
die vor dem Urtheile existiren, dem Begriffe des Seins und der
Thätigkeit. Ersterer ist freilich noch kein wirklicher Begriff;
aber doch letzterer. Becker wird zwar, um den Vorwurf des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0130" n="92"/>
gegen wird in dem ersten Erkennen noch nicht als ein wirkli-<lb/>
cher Begriff gedacht&#x201C; &#x2014; sondern als was? &#x2014;: &#x201E;er wird erst<lb/>
durch das Erkennen&#x201C; (d. h. durch ein ferneres) &#x201E;zu einem Be-<lb/>
griffe; und jeder Begriff eines Seins, wie er sich in dem Worte<lb/>
&#x2014; dem Substantiv &#x2014; darstellt, ist Product eines Urtheiles. Ein<lb/>
wirklicher <hi rendition="#g">Begriff</hi> eines Seins wird nämlich erst dadurch ge-<lb/>
bildet, daß ein besonderes Sein, das noch nicht als Begriff ge-<lb/>
dacht wird, durch das Erkennen in den Begriff einer Thätigkeit<lb/>
als ein Allgemeines aufgenommen, das Sein unter einer Thätig-<lb/>
keit begriffen wird.&#x201C; &#x201E;Nämlich&#x201C; &#x2014; Becker erzählt uns dies. Was<lb/>
ist denn aber der Begriff des Seins, bevor er wirklicher Begriff<lb/>
wird? Wenn es Becker nicht sagen will, so zwingen wir es ihm<lb/>
ab: sinnliche Anschauung. Das Sein wird also zuerst, im ersten<lb/>
Erkennen, als sinnliche Anschauung gefaßt, und wird durch das<lb/>
Urtheil zum Begriff. Die Thätigkeit aber ist sogleich und an<lb/>
sich allgemein und Begriff. Nun sagt aber Becker selbst (S. 72):<lb/>
&#x201E;Der Begriff der Bewegung wird in der sinnlichen Anschauung<lb/>
nie in seiner abstracten Allgemeinheit, sondern immer in einer<lb/>
concreten Besonderheit aufgefaßt&#x201C;; also ist auch er im ersten<lb/>
Erkennen noch nicht Begriff. Damit stürzt freilich auch das<lb/>
Folgende. Wie soll nun das Sein allgemein, wirklicher Begriff<lb/>
werden? denn wenn es nun im Urtheil mit der Thätigkeit ver-<lb/>
bunden wird, so wird nicht ein Besonderes in das Allgemeine<lb/>
aufgenommen, sondern es werden zwei Besonderheiten verbun-<lb/>
den, von denen jede die erste und der eigentliche Inhalt des<lb/>
Urtheils sein kann.</p><lb/>
                <p>Hier kommt noch ein anderer Punkt in Betracht. Man<lb/>
thut sich viel darauf zu gute, erkannt zu haben, daß das Ur-<lb/>
theil früher sei als der Begriff. Becker hat vorzüglich diese<lb/>
Ansicht befördert, und wir haben ja so eben gelesen, &#x201E;der erste<lb/>
Pulsschlag in dem aufgehenden Leben der Intelligenz&#x201C; sei das<lb/>
Urtheil. Nun wird aber trotzdem auch von Becker nicht bloß<lb/>
die Lehre von den Begriffen der vom Urtheile vorausgeschickt,<lb/>
was sich aus didaktisch-methodischen Gründen rechtfertigen ließe;<lb/>
sondern Becker kann das Urtheil gar nicht anders begreifen,<lb/>
denn als eine <hi rendition="#g">mechanische</hi> Zusammenfassung zweier Begriffe,<lb/>
die vor dem Urtheile existiren, dem Begriffe des Seins und der<lb/>
Thätigkeit. Ersterer ist freilich noch kein wirklicher Begriff;<lb/>
aber doch letzterer. Becker wird zwar, um den Vorwurf des<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0130] gegen wird in dem ersten Erkennen noch nicht als ein wirkli- cher Begriff gedacht“ — sondern als was? —: „er wird erst durch das Erkennen“ (d. h. durch ein ferneres) „zu einem Be- griffe; und jeder Begriff eines Seins, wie er sich in dem Worte — dem Substantiv — darstellt, ist Product eines Urtheiles. Ein wirklicher Begriff eines Seins wird nämlich erst dadurch ge- bildet, daß ein besonderes Sein, das noch nicht als Begriff ge- dacht wird, durch das Erkennen in den Begriff einer Thätigkeit als ein Allgemeines aufgenommen, das Sein unter einer Thätig- keit begriffen wird.“ „Nämlich“ — Becker erzählt uns dies. Was ist denn aber der Begriff des Seins, bevor er wirklicher Begriff wird? Wenn es Becker nicht sagen will, so zwingen wir es ihm ab: sinnliche Anschauung. Das Sein wird also zuerst, im ersten Erkennen, als sinnliche Anschauung gefaßt, und wird durch das Urtheil zum Begriff. Die Thätigkeit aber ist sogleich und an sich allgemein und Begriff. Nun sagt aber Becker selbst (S. 72): „Der Begriff der Bewegung wird in der sinnlichen Anschauung nie in seiner abstracten Allgemeinheit, sondern immer in einer concreten Besonderheit aufgefaßt“; also ist auch er im ersten Erkennen noch nicht Begriff. Damit stürzt freilich auch das Folgende. Wie soll nun das Sein allgemein, wirklicher Begriff werden? denn wenn es nun im Urtheil mit der Thätigkeit ver- bunden wird, so wird nicht ein Besonderes in das Allgemeine aufgenommen, sondern es werden zwei Besonderheiten verbun- den, von denen jede die erste und der eigentliche Inhalt des Urtheils sein kann. Hier kommt noch ein anderer Punkt in Betracht. Man thut sich viel darauf zu gute, erkannt zu haben, daß das Ur- theil früher sei als der Begriff. Becker hat vorzüglich diese Ansicht befördert, und wir haben ja so eben gelesen, „der erste Pulsschlag in dem aufgehenden Leben der Intelligenz“ sei das Urtheil. Nun wird aber trotzdem auch von Becker nicht bloß die Lehre von den Begriffen der vom Urtheile vorausgeschickt, was sich aus didaktisch-methodischen Gründen rechtfertigen ließe; sondern Becker kann das Urtheil gar nicht anders begreifen, denn als eine mechanische Zusammenfassung zweier Begriffe, die vor dem Urtheile existiren, dem Begriffe des Seins und der Thätigkeit. Ersterer ist freilich noch kein wirklicher Begriff; aber doch letzterer. Becker wird zwar, um den Vorwurf des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/130
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/130>, abgerufen am 29.03.2024.