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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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sificirung des Wortschatzes ist eine der Phänomenologie gehörende
Anordnung der Vorstellungen des gemeinen Bewußtseins; und
wenn nach Becker (Org. S. 26) "alle Formen des Gedankens,
aber auch nur diese, sich auch leiblich in der Sprache dar-
stellen", so giebt es für die Betrachtung der Bedeutung der
sprachlichen Formen nur dieselbe Wissenschaft, welche die For-
men des Gedankens untersucht, die Logik. Da nun sogar die
sprachliche Verleiblichung der Formen des Gedankens die or-
ganische Erzeugung des Gedankens selbst ist, so ist die Analyse
der Sprache an sich die vollendete Logik; jede Zuthat und jede
Aenderung der sprachlichen Kategorien wäre Fälschung der Lo-
gik; die Logik nichts anderes als Physiologie der Sprache. Wie
der Begriff oder Gedanke des allgemeinen Lebens, welcher das
All schuf, nichts anderes ist als das in den einzelnen Organis-
men verwirklichte Leben oder die in den einzelnen Organismen
leiblich gewordenen besondern Begriffe, und die Erkenntniß die-
ser Begriffe eben die Erkenntniß des allgemeinen Gedankens
der Natur in seiner Besonderung und Verwirklichung ist: so
wären die Formen der Sprache die Besonderungen des allge-
meinen Begriffes Mensch oder des Denkens, und die Erkennt-
niß dieser Sprachformen wäre die Erkenntniß des Denkens in
seiner Besonderung und Verleiblichung.

Becker beginnt die Lehre von der Wortbildung (S. 62):
"Die Sprache ist der in die Erscheinung tretende Gedanke, und
das Wort der in Lauten leiblich gewordene Begriff; und die
organische Entwickelung des Wortes ist mit der organischen
Entwickelung des Begriffes gewissermaßen ein und derselbe Vor-
gang." Gewissermaßen bloß? durchaus und ganz und gar viel-
mehr, da erst als Wort der Begriff organisch ist. "Daher er-
klären sie sich einander gegenseitig"; auch wenn sie nur gewis-
sermaßen eins sind, ist vielmehr in der Erklärung des einen die
des andern enthalten: darum kann keiner den andern erklären,
oder man geräth in Tautologie. -- Becker darf also nicht sagen:
"Die Grammatik steht mit der Logik in einer innigen Bezie-
hung"; er darf nicht reden von der Verbindung der Logik mit
der Grammatik; sondern es giebt nur eine Wissenschaft des
Gedankens. Nennt man nun dieselbe gewöhnlich Logik, so
bleibt kein Gegenstand mehr für die Grammatik; oder es wird
dann die Bedeutung der Grammatik auf diejenige zurückgeführt,
welche sie bei den Griechen der vor-alexandrinischen Zeit hatte,

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sificirung des Wortschatzes ist eine der Phänomenologie gehörende
Anordnung der Vorstellungen des gemeinen Bewußtseins; und
wenn nach Becker (Org. S. 26) „alle Formen des Gedankens,
aber auch nur diese, sich auch leiblich in der Sprache dar-
stellen“, so giebt es für die Betrachtung der Bedeutung der
sprachlichen Formen nur dieselbe Wissenschaft, welche die For-
men des Gedankens untersucht, die Logik. Da nun sogar die
sprachliche Verleiblichung der Formen des Gedankens die or-
ganische Erzeugung des Gedankens selbst ist, so ist die Analyse
der Sprache an sich die vollendete Logik; jede Zuthat und jede
Aenderung der sprachlichen Kategorien wäre Fälschung der Lo-
gik; die Logik nichts anderes als Physiologie der Sprache. Wie
der Begriff oder Gedanke des allgemeinen Lebens, welcher das
All schuf, nichts anderes ist als das in den einzelnen Organis-
men verwirklichte Leben oder die in den einzelnen Organismen
leiblich gewordenen besondern Begriffe, und die Erkenntniß die-
ser Begriffe eben die Erkenntniß des allgemeinen Gedankens
der Natur in seiner Besonderung und Verwirklichung ist: so
wären die Formen der Sprache die Besonderungen des allge-
meinen Begriffes Mensch oder des Denkens, und die Erkennt-
niß dieser Sprachformen wäre die Erkenntniß des Denkens in
seiner Besonderung und Verleiblichung.

Becker beginnt die Lehre von der Wortbildung (S. 62):
„Die Sprache ist der in die Erscheinung tretende Gedanke, und
das Wort der in Lauten leiblich gewordene Begriff; und die
organische Entwickelung des Wortes ist mit der organischen
Entwickelung des Begriffes gewissermaßen ein und derselbe Vor-
gang.“ Gewissermaßen bloß? durchaus und ganz und gar viel-
mehr, da erst als Wort der Begriff organisch ist. „Daher er-
klären sie sich einander gegenseitig“; auch wenn sie nur gewis-
sermaßen eins sind, ist vielmehr in der Erklärung des einen die
des andern enthalten: darum kann keiner den andern erklären,
oder man geräth in Tautologie. — Becker darf also nicht sagen:
„Die Grammatik steht mit der Logik in einer innigen Bezie-
hung“; er darf nicht reden von der Verbindung der Logik mit
der Grammatik; sondern es giebt nur eine Wissenschaft des
Gedankens. Nennt man nun dieselbe gewöhnlich Logik, so
bleibt kein Gegenstand mehr für die Grammatik; oder es wird
dann die Bedeutung der Grammatik auf diejenige zurückgeführt,
welche sie bei den Griechen der vor-alexandrinischen Zeit hatte,

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[97/0135] sificirung des Wortschatzes ist eine der Phänomenologie gehörende Anordnung der Vorstellungen des gemeinen Bewußtseins; und wenn nach Becker (Org. S. 26) „alle Formen des Gedankens, aber auch nur diese, sich auch leiblich in der Sprache dar- stellen“, so giebt es für die Betrachtung der Bedeutung der sprachlichen Formen nur dieselbe Wissenschaft, welche die For- men des Gedankens untersucht, die Logik. Da nun sogar die sprachliche Verleiblichung der Formen des Gedankens die or- ganische Erzeugung des Gedankens selbst ist, so ist die Analyse der Sprache an sich die vollendete Logik; jede Zuthat und jede Aenderung der sprachlichen Kategorien wäre Fälschung der Lo- gik; die Logik nichts anderes als Physiologie der Sprache. Wie der Begriff oder Gedanke des allgemeinen Lebens, welcher das All schuf, nichts anderes ist als das in den einzelnen Organis- men verwirklichte Leben oder die in den einzelnen Organismen leiblich gewordenen besondern Begriffe, und die Erkenntniß die- ser Begriffe eben die Erkenntniß des allgemeinen Gedankens der Natur in seiner Besonderung und Verwirklichung ist: so wären die Formen der Sprache die Besonderungen des allge- meinen Begriffes Mensch oder des Denkens, und die Erkennt- niß dieser Sprachformen wäre die Erkenntniß des Denkens in seiner Besonderung und Verleiblichung. Becker beginnt die Lehre von der Wortbildung (S. 62): „Die Sprache ist der in die Erscheinung tretende Gedanke, und das Wort der in Lauten leiblich gewordene Begriff; und die organische Entwickelung des Wortes ist mit der organischen Entwickelung des Begriffes gewissermaßen ein und derselbe Vor- gang.“ Gewissermaßen bloß? durchaus und ganz und gar viel- mehr, da erst als Wort der Begriff organisch ist. „Daher er- klären sie sich einander gegenseitig“; auch wenn sie nur gewis- sermaßen eins sind, ist vielmehr in der Erklärung des einen die des andern enthalten: darum kann keiner den andern erklären, oder man geräth in Tautologie. — Becker darf also nicht sagen: „Die Grammatik steht mit der Logik in einer innigen Bezie- hung“; er darf nicht reden von der Verbindung der Logik mit der Grammatik; sondern es giebt nur eine Wissenschaft des Gedankens. Nennt man nun dieselbe gewöhnlich Logik, so bleibt kein Gegenstand mehr für die Grammatik; oder es wird dann die Bedeutung der Grammatik auf diejenige zurückgeführt, welche sie bei den Griechen der vor-alexandrinischen Zeit hatte, 7

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/135>, abgerufen am 28.03.2024.