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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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organe? Ist also die Sprache organisches Product des allgemei-
nen Lebens, so muß sie alles haben, dessen sie je bedarf. Oder
wenn man, und mit Recht, annimmt, das Kind habe eben wirk-
lich noch keine Geschlechtsorgane, habe sie wenigstens nicht
vollständig; nun so erhält es dieselben von selbst, ohne sein Zu-
thun. Die Natur selbst füllt die Lücken aus, welche das neu-
entstandene Wesen noch an sich trägt. Ist also die Sprache
ein organisches Naturproduct, so mußte in dem Augenblicke,
wo im Geiste des Menschen eine neue Denkform aufging, gleich-
zeitig eine ihr entsprechende Sprachform geschaffen sein, welche
ihr leibliches Organ ist.

Was ferner den andern Punkt, die Verschiedenheit der Spra-
chen, betrifft, so wird sie auch von Becker zugestanden; und
wir fragen, mit welchem Recht? Er sagt (S. XVII): "Auf der
andern Seite aber kann Niemand mehr, als der Verfasser, der
Meinung abhold sein, als müßten sich in jeder Sprache diesel-
ben Formen und Ausdrücke der allgemeinen Denkgesetze in
gleicher Vollkommenheit entwickelt haben" -- das müßte aller-
dings geschehen sein. "Die Denkgesetze sind so allgemein, daß
sie sich in tausend Nüancirungen nicht nur aussprechen kön-
nen,
sondern selbst müssen." Hier wird die Spitze der Sa-
che durch schwankende Ausdrücke abgestumpft. Die Gesetze
der Logik und ihre Kategorien mögen noch so allgemein sein,
sie sind scharf bestimmt und haben nur eine Weise der Ver-
leiblichung mit so viel organischer Freiheit als Epheublätter
oder die Augen der Menschen. Die Logik selbst, ihre Kate-
gorien, sind nie nüancirt, immer und ewig sich selbst gleich. --
Noch schlimmer ist es, wenn Becker sagt (S. XVIII): "Zugege-
ben muß werden, daß der Lautstoff sich zuweilen von der Herr-
schaft des Denkgesetzes mehr oder weniger frei gemacht und
eine selbständige Entwickelung scheint begonnen zu haben, ja
daß diese Entwickelung wieder auf das logische Element mag
zurückgewirkt haben." Aber wir fragen, wie ist das möglich?
Kann sich der materielle Stoff des Tigers von der Herrschaft
des Begriffs Tiger frei machen? Welche Mißgeburt wäre das!
Kann sich das Auge von der Herrschaft des Sehens befreien?
ich kann es schließen -- ich kann schweigen und schlafen; es kann
erblinden -- der Mensch kann stumm sein und sterben; es kann
durch Zufall, durch Krankheit oder falsche ursprüngliche Bil-
dung falsch sehen -- wenn dies in der Sprache geschieht, so

organe? Ist also die Sprache organisches Product des allgemei-
nen Lebens, so muß sie alles haben, dessen sie je bedarf. Oder
wenn man, und mit Recht, annimmt, das Kind habe eben wirk-
lich noch keine Geschlechtsorgane, habe sie wenigstens nicht
vollständig; nun so erhält es dieselben von selbst, ohne sein Zu-
thun. Die Natur selbst füllt die Lücken aus, welche das neu-
entstandene Wesen noch an sich trägt. Ist also die Sprache
ein organisches Naturproduct, so mußte in dem Augenblicke,
wo im Geiste des Menschen eine neue Denkform aufging, gleich-
zeitig eine ihr entsprechende Sprachform geschaffen sein, welche
ihr leibliches Organ ist.

Was ferner den andern Punkt, die Verschiedenheit der Spra-
chen, betrifft, so wird sie auch von Becker zugestanden; und
wir fragen, mit welchem Recht? Er sagt (S. XVII): „Auf der
andern Seite aber kann Niemand mehr, als der Verfasser, der
Meinung abhold sein, als müßten sich in jeder Sprache diesel-
ben Formen und Ausdrücke der allgemeinen Denkgesetze in
gleicher Vollkommenheit entwickelt haben“ — das müßte aller-
dings geschehen sein. „Die Denkgesetze sind so allgemein, daß
sie sich in tausend Nüancirungen nicht nur aussprechen kön-
nen,
sondern selbst müssen.“ Hier wird die Spitze der Sa-
che durch schwankende Ausdrücke abgestumpft. Die Gesetze
der Logik und ihre Kategorien mögen noch so allgemein sein,
sie sind scharf bestimmt und haben nur eine Weise der Ver-
leiblichung mit so viel organischer Freiheit als Epheublätter
oder die Augen der Menschen. Die Logik selbst, ihre Kate-
gorien, sind nie nüancirt, immer und ewig sich selbst gleich. —
Noch schlimmer ist es, wenn Becker sagt (S. XVIII): „Zugege-
ben muß werden, daß der Lautstoff sich zuweilen von der Herr-
schaft des Denkgesetzes mehr oder weniger frei gemacht und
eine selbständige Entwickelung scheint begonnen zu haben, ja
daß diese Entwickelung wieder auf das logische Element mag
zurückgewirkt haben.“ Aber wir fragen, wie ist das möglich?
Kann sich der materielle Stoff des Tigers von der Herrschaft
des Begriffs Tiger frei machen? Welche Mißgeburt wäre das!
Kann sich das Auge von der Herrschaft des Sehens befreien?
ich kann es schließen — ich kann schweigen und schlafen; es kann
erblinden — der Mensch kann stumm sein und sterben; es kann
durch Zufall, durch Krankheit oder falsche ursprüngliche Bil-
dung falsch sehen — wenn dies in der Sprache geschieht, so

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[100/0138] organe? Ist also die Sprache organisches Product des allgemei- nen Lebens, so muß sie alles haben, dessen sie je bedarf. Oder wenn man, und mit Recht, annimmt, das Kind habe eben wirk- lich noch keine Geschlechtsorgane, habe sie wenigstens nicht vollständig; nun so erhält es dieselben von selbst, ohne sein Zu- thun. Die Natur selbst füllt die Lücken aus, welche das neu- entstandene Wesen noch an sich trägt. Ist also die Sprache ein organisches Naturproduct, so mußte in dem Augenblicke, wo im Geiste des Menschen eine neue Denkform aufging, gleich- zeitig eine ihr entsprechende Sprachform geschaffen sein, welche ihr leibliches Organ ist. Was ferner den andern Punkt, die Verschiedenheit der Spra- chen, betrifft, so wird sie auch von Becker zugestanden; und wir fragen, mit welchem Recht? Er sagt (S. XVII): „Auf der andern Seite aber kann Niemand mehr, als der Verfasser, der Meinung abhold sein, als müßten sich in jeder Sprache diesel- ben Formen und Ausdrücke der allgemeinen Denkgesetze in gleicher Vollkommenheit entwickelt haben“ — das müßte aller- dings geschehen sein. „Die Denkgesetze sind so allgemein, daß sie sich in tausend Nüancirungen nicht nur aussprechen kön- nen, sondern selbst müssen.“ Hier wird die Spitze der Sa- che durch schwankende Ausdrücke abgestumpft. Die Gesetze der Logik und ihre Kategorien mögen noch so allgemein sein, sie sind scharf bestimmt und haben nur eine Weise der Ver- leiblichung mit so viel organischer Freiheit als Epheublätter oder die Augen der Menschen. Die Logik selbst, ihre Kate- gorien, sind nie nüancirt, immer und ewig sich selbst gleich. — Noch schlimmer ist es, wenn Becker sagt (S. XVIII): „Zugege- ben muß werden, daß der Lautstoff sich zuweilen von der Herr- schaft des Denkgesetzes mehr oder weniger frei gemacht und eine selbständige Entwickelung scheint begonnen zu haben, ja daß diese Entwickelung wieder auf das logische Element mag zurückgewirkt haben.“ Aber wir fragen, wie ist das möglich? Kann sich der materielle Stoff des Tigers von der Herrschaft des Begriffs Tiger frei machen? Welche Mißgeburt wäre das! Kann sich das Auge von der Herrschaft des Sehens befreien? ich kann es schließen — ich kann schweigen und schlafen; es kann erblinden — der Mensch kann stumm sein und sterben; es kann durch Zufall, durch Krankheit oder falsche ursprüngliche Bil- dung falsch sehen — wenn dies in der Sprache geschieht, so

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/138>, abgerufen am 24.04.2024.