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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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jeden Leser, sich zu fragen, was er in den folgenden Sätzen:
"der Ring ist von Golde, der Knecht ist treu, das Pferd ist alt"
für das Allgemeine, und was für das Besondere zu halten sich
gezwungen fühle, und dann bei Becker (S. 160) zu lesen, daß Ring,
Knecht und Pferd eine Art des Seins, also ein Allgemeines, sind,
welches auf Gold, treu, alt, als eine Unterart, also ein Besonderes,
zurückgeführt werden; dagegen ist in dem Satze: "der Feind
flieht" (S. 162) der Feind das Besondere, welches in das All-
gemeine "flieht" aufgenommen wird, und in "der fliehende Feind"
ist "Feind" das Allgemeine und "fliehen" das Besondere (S. 160).
Wie aber ferner der Widerspruch zu lösen ist, daß S. 157 ge-
sagt wird, "ein Begriff könne nicht durch einen andern Begriff
individualisirt werden," dagegen S. 160 gezeigt wird, wie "die
Sprache die Individualisirung des Subjectes in dem attributiven,
und die des Prädicates in dem objectiven Satzverhältnisse dar-
stellt", mag jemand zu lösen versuchen, dem es besser als uns
gelingt, sich in Beckers Ansicht über das Allgemeine und Be-
sondere zu finden.

§. 42. Logische und grammatische Form.

Wir müssen aber noch eines andern Unterschiedes geden-
ken, der sich eng an den vorigen anschließt, nämlich zwischen
logischer und grammatischer Form des Satzes. Becker lehrt,
jeder Satz und jedes Satzverhältniß bildet eine Einheit, natür-
lich eine organische. Das Wort, auf welches zurückgeführt, in
welches aufgenommen wird, ist das bezogene Wort; dasjenige,
welches aufgenommen und zurückgeführt wird, ist das Bezie-
hungswort
. Jenes enthält den übergeordneten, dieses den un-
tergeordneten Begriff. "Man unterscheidet daher den logischen
Werth der Factoren, und sagt, der bezogene Factor habe den
größern logischen Werth." Diese logische Unterordnung er-
zeugt eben die organische Einheit. Positive und negative Elek-
tricität zwar, wie Nord- und Südpolarität bilden, wie Becker nicht
läugnen wird, eine strenge organische Einheit, sind aber einan-
der keineswegs untergeordnet; ja es gehört sogar zum Wesen
des Gegensatzes, daß seine Glieder nebengeordnet seien. Da
aber Becker im Satze alles nach dem Gegensatze vom Allge-
meinen und Besondern bestimmt, diese aber im Verhältnisse der
Unterordnung stehen -- woraus freilich mancher schließen würde,
daß sie nicht im Verhältnisse des Gegensatzes stehen --, so kann
im Satze die Einheit nur durch Unterordnung und nicht durch

jeden Leser, sich zu fragen, was er in den folgenden Sätzen:
„der Ring ist von Golde, der Knecht ist treu, das Pferd ist alt“
für das Allgemeine, und was für das Besondere zu halten sich
gezwungen fühle, und dann bei Becker (S. 160) zu lesen, daß Ring,
Knecht und Pferd eine Art des Seins, also ein Allgemeines, sind,
welches auf Gold, treu, alt, als eine Unterart, also ein Besonderes,
zurückgeführt werden; dagegen ist in dem Satze: „der Feind
flieht“ (S. 162) der Feind das Besondere, welches in das All-
gemeine „flieht“ aufgenommen wird, und in „der fliehende Feind“
ist „Feind“ das Allgemeine und „fliehen“ das Besondere (S. 160).
Wie aber ferner der Widerspruch zu lösen ist, daß S. 157 ge-
sagt wird, „ein Begriff könne nicht durch einen andern Begriff
individualisirt werden,“ dagegen S. 160 gezeigt wird, wie „die
Sprache die Individualisirung des Subjectes in dem attributiven,
und die des Prädicates in dem objectiven Satzverhältnisse dar-
stellt“, mag jemand zu lösen versuchen, dem es besser als uns
gelingt, sich in Beckers Ansicht über das Allgemeine und Be-
sondere zu finden.

§. 42. Logische und grammatische Form.

Wir müssen aber noch eines andern Unterschiedes geden-
ken, der sich eng an den vorigen anschließt, nämlich zwischen
logischer und grammatischer Form des Satzes. Becker lehrt,
jeder Satz und jedes Satzverhältniß bildet eine Einheit, natür-
lich eine organische. Das Wort, auf welches zurückgeführt, in
welches aufgenommen wird, ist das bezogene Wort; dasjenige,
welches aufgenommen und zurückgeführt wird, ist das Bezie-
hungswort
. Jenes enthält den übergeordneten, dieses den un-
tergeordneten Begriff. „Man unterscheidet daher den logischen
Werth der Factoren, und sagt, der bezogene Factor habe den
größern logischen Werth.“ Diese logische Unterordnung er-
zeugt eben die organische Einheit. Positive und negative Elek-
tricität zwar, wie Nord- und Südpolarität bilden, wie Becker nicht
läugnen wird, eine strenge organische Einheit, sind aber einan-
der keineswegs untergeordnet; ja es gehört sogar zum Wesen
des Gegensatzes, daß seine Glieder nebengeordnet seien. Da
aber Becker im Satze alles nach dem Gegensatze vom Allge-
meinen und Besondern bestimmt, diese aber im Verhältnisse der
Unterordnung stehen — woraus freilich mancher schließen würde,
daß sie nicht im Verhältnisse des Gegensatzes stehen —, so kann
im Satze die Einheit nur durch Unterordnung und nicht durch

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[105/0143] jeden Leser, sich zu fragen, was er in den folgenden Sätzen: „der Ring ist von Golde, der Knecht ist treu, das Pferd ist alt“ für das Allgemeine, und was für das Besondere zu halten sich gezwungen fühle, und dann bei Becker (S. 160) zu lesen, daß Ring, Knecht und Pferd eine Art des Seins, also ein Allgemeines, sind, welches auf Gold, treu, alt, als eine Unterart, also ein Besonderes, zurückgeführt werden; dagegen ist in dem Satze: „der Feind flieht“ (S. 162) der Feind das Besondere, welches in das All- gemeine „flieht“ aufgenommen wird, und in „der fliehende Feind“ ist „Feind“ das Allgemeine und „fliehen“ das Besondere (S. 160). Wie aber ferner der Widerspruch zu lösen ist, daß S. 157 ge- sagt wird, „ein Begriff könne nicht durch einen andern Begriff individualisirt werden,“ dagegen S. 160 gezeigt wird, wie „die Sprache die Individualisirung des Subjectes in dem attributiven, und die des Prädicates in dem objectiven Satzverhältnisse dar- stellt“, mag jemand zu lösen versuchen, dem es besser als uns gelingt, sich in Beckers Ansicht über das Allgemeine und Be- sondere zu finden. §. 42. Logische und grammatische Form. Wir müssen aber noch eines andern Unterschiedes geden- ken, der sich eng an den vorigen anschließt, nämlich zwischen logischer und grammatischer Form des Satzes. Becker lehrt, jeder Satz und jedes Satzverhältniß bildet eine Einheit, natür- lich eine organische. Das Wort, auf welches zurückgeführt, in welches aufgenommen wird, ist das bezogene Wort; dasjenige, welches aufgenommen und zurückgeführt wird, ist das Bezie- hungswort. Jenes enthält den übergeordneten, dieses den un- tergeordneten Begriff. „Man unterscheidet daher den logischen Werth der Factoren, und sagt, der bezogene Factor habe den größern logischen Werth.“ Diese logische Unterordnung er- zeugt eben die organische Einheit. Positive und negative Elek- tricität zwar, wie Nord- und Südpolarität bilden, wie Becker nicht läugnen wird, eine strenge organische Einheit, sind aber einan- der keineswegs untergeordnet; ja es gehört sogar zum Wesen des Gegensatzes, daß seine Glieder nebengeordnet seien. Da aber Becker im Satze alles nach dem Gegensatze vom Allge- meinen und Besondern bestimmt, diese aber im Verhältnisse der Unterordnung stehen — woraus freilich mancher schließen würde, daß sie nicht im Verhältnisse des Gegensatzes stehen —, so kann im Satze die Einheit nur durch Unterordnung und nicht durch

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/143>, abgerufen am 28.03.2024.