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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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den übrigen, welche nur die Gewandtheit, Bequemlich-
keit und Leichtigkeit
in der Gedankenverbindung und in
dem Gedankenausdruck bedingen und befördern." Dieser Ein-
gang spricht schon in vollständiger Bestimmtheit aus, daß es
unmöglich ist, die Grammatik ganz und gar zu vernichten und
ihren Inhalt der Logik anzueignen. Diese Aneignung will nur
zur Hälfte gelingen; die andere Hälfte ist das eigenthümliche
Erzeugniß der Sprache, und die Triebkraft desselben ist "Ge-
wandtheit, Bequemlichkeit und Leichtigkeit" -- wessen? der
Sprache, oder Reinholds und Beckers? Diese Worte haben uns
lebhaft an einen Satz der Grammaire generale et raisonnee de
Port-Royal
erinnert, wo über die Geschlechtsendungen der Ad-
jectiva Folgendes gelehrt wird: Comme les noms adjectifs de leur
nature conviennent a plusieurs, on a juge a propos, pour ren-
dre le discours moins confus, et aussi pour l'embellir par
la variete des terminaisons, d'inventer
dans les ad-
jectifs une diversite selon les substantifs auxquels on les appli-
querait
.

Vielleicht indessen vermuthet der Leser mit uns, daß die
nicht-logischen Formen der Sprache auch für die Grammatik
die unwesentlichen sind, wogegen der wesentliche Theil der
Grammatik vielmehr der Logik gehört. Reinhold fährt fort:
"Nun sind die Sprachformen sämmtlich auf die gewöhnlich so
genannten Redetheile oder Wortarten, und auf die Beugung und
die Stellung der Worte im Satze und in der Verknüpfung der
Sätze zurückzuführen. Aber von der Flexion ist gleich im
Voraus zu bemerken, daß sie keine andern als in logischer Hin-
sicht außerwesentlichen Formen enthält, und gleichfalls gilt
dies von der Wortstellung, daß sie in keinem Zusammenhange
unserer Vorstellungen mit Nothwendigkeit durch das Denken
bestimmt wird. Daher bleibt die Ausführung jenes Problems
auf den engen Bezirk einer Ableitung der Wortarten aus den
Classen der Einzelvorstellungen beschränkt." Wenn nun die
Flexion ohne Widerrede der wesentlichste Theil der Grammatik
ist, so fällt die Grammatik gerade mit ihm aus der Logik her-
aus. Das ist begreiflich mit Reinholds "Leichtigkeit und Be-
quemlichkeit" und dem französischen juger a propos et embellis-
sement,
aber nicht nach Beckers Organismus.

Wir sind nicht halsstarrig; lassen wir die Flexion als lo-
gisch unwesentlich fahren! Die Redetheile sind ja das eigent-

den übrigen, welche nur die Gewandtheit, Bequemlich-
keit und Leichtigkeit
in der Gedankenverbindung und in
dem Gedankenausdruck bedingen und befördern.“ Dieser Ein-
gang spricht schon in vollständiger Bestimmtheit aus, daß es
unmöglich ist, die Grammatik ganz und gar zu vernichten und
ihren Inhalt der Logik anzueignen. Diese Aneignung will nur
zur Hälfte gelingen; die andere Hälfte ist das eigenthümliche
Erzeugniß der Sprache, und die Triebkraft desselben ist „Ge-
wandtheit, Bequemlichkeit und Leichtigkeit“ — wessen? der
Sprache, oder Reinholds und Beckers? Diese Worte haben uns
lebhaft an einen Satz der Grammaire générale et raisonnée de
Port-Royal
erinnert, wo über die Geschlechtsendungen der Ad-
jectiva Folgendes gelehrt wird: Comme les noms adjectifs de leur
nature conviennent à plusieurs, on a jugé à propos, pour ren-
dre le discours moins confus, et aussi pour l’embellir par
la variété des terminaisons, d’inventer
dans les ad-
jectifs une diversité selon les substantifs auxquels on les appli-
querait
.

Vielleicht indessen vermuthet der Leser mit uns, daß die
nicht-logischen Formen der Sprache auch für die Grammatik
die unwesentlichen sind, wogegen der wesentliche Theil der
Grammatik vielmehr der Logik gehört. Reinhold fährt fort:
„Nun sind die Sprachformen sämmtlich auf die gewöhnlich so
genannten Redetheile oder Wortarten, und auf die Beugung und
die Stellung der Worte im Satze und in der Verknüpfung der
Sätze zurückzuführen. Aber von der Flexion ist gleich im
Voraus zu bemerken, daß sie keine andern als in logischer Hin-
sicht außerwesentlichen Formen enthält, und gleichfalls gilt
dies von der Wortstellung, daß sie in keinem Zusammenhange
unserer Vorstellungen mit Nothwendigkeit durch das Denken
bestimmt wird. Daher bleibt die Ausführung jenes Problems
auf den engen Bezirk einer Ableitung der Wortarten aus den
Classen der Einzelvorstellungen beschränkt.“ Wenn nun die
Flexion ohne Widerrede der wesentlichste Theil der Grammatik
ist, so fällt die Grammatik gerade mit ihm aus der Logik her-
aus. Das ist begreiflich mit Reinholds „Leichtigkeit und Be-
quemlichkeit“ und dem französischen juger à propos et embellis-
sement,
aber nicht nach Beckers Organismus.

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gisch unwesentlich fahren! Die Redetheile sind ja das eigent-

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[114/0152] den übrigen, welche nur die Gewandtheit, Bequemlich- keit und Leichtigkeit in der Gedankenverbindung und in dem Gedankenausdruck bedingen und befördern.“ Dieser Ein- gang spricht schon in vollständiger Bestimmtheit aus, daß es unmöglich ist, die Grammatik ganz und gar zu vernichten und ihren Inhalt der Logik anzueignen. Diese Aneignung will nur zur Hälfte gelingen; die andere Hälfte ist das eigenthümliche Erzeugniß der Sprache, und die Triebkraft desselben ist „Ge- wandtheit, Bequemlichkeit und Leichtigkeit“ — wessen? der Sprache, oder Reinholds und Beckers? Diese Worte haben uns lebhaft an einen Satz der Grammaire générale et raisonnée de Port-Royal erinnert, wo über die Geschlechtsendungen der Ad- jectiva Folgendes gelehrt wird: Comme les noms adjectifs de leur nature conviennent à plusieurs, on a jugé à propos, pour ren- dre le discours moins confus, et aussi pour l’embellir par la variété des terminaisons, d’inventer dans les ad- jectifs une diversité selon les substantifs auxquels on les appli- querait. Vielleicht indessen vermuthet der Leser mit uns, daß die nicht-logischen Formen der Sprache auch für die Grammatik die unwesentlichen sind, wogegen der wesentliche Theil der Grammatik vielmehr der Logik gehört. Reinhold fährt fort: „Nun sind die Sprachformen sämmtlich auf die gewöhnlich so genannten Redetheile oder Wortarten, und auf die Beugung und die Stellung der Worte im Satze und in der Verknüpfung der Sätze zurückzuführen. Aber von der Flexion ist gleich im Voraus zu bemerken, daß sie keine andern als in logischer Hin- sicht außerwesentlichen Formen enthält, und gleichfalls gilt dies von der Wortstellung, daß sie in keinem Zusammenhange unserer Vorstellungen mit Nothwendigkeit durch das Denken bestimmt wird. Daher bleibt die Ausführung jenes Problems auf den engen Bezirk einer Ableitung der Wortarten aus den Classen der Einzelvorstellungen beschränkt.“ Wenn nun die Flexion ohne Widerrede der wesentlichste Theil der Grammatik ist, so fällt die Grammatik gerade mit ihm aus der Logik her- aus. Das ist begreiflich mit Reinholds „Leichtigkeit und Be- quemlichkeit“ und dem französischen juger à propos et embellis- sement, aber nicht nach Beckers Organismus. Wir sind nicht halsstarrig; lassen wir die Flexion als lo- gisch unwesentlich fahren! Die Redetheile sind ja das eigent-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/152>, abgerufen am 23.04.2024.