Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

ausspricht, was dieselben bedeuten. Hier machen wir nur die
Reflexion, die man zu machen meist vergessen hat -- wie man
überhaupt aus jener Thatsache bis heute noch nicht die ganze
Folge gezogen hat --, daß es doch nur der etymologische Sinn
ist, was das Wort eigentlich und an sich aussagt. Das Wort
bedeutet nun freilich auch noch etwas anderes, was oft sehr fern
von dem etymologischen Sinne liegt, den Begriff; woraus doch
aber eben nur folgt, daß das Wort nicht der Begriff ist, son-
dern nur den Begriff bedeutet.

Noch nie seit Menschengedenken mag jemand gefragt ha-
ben: was oder welcher Begriff ist dieses Wort? sondern immer
hat man gefragt: was oder welchen Begriff bedeutet dieses
Wort. Das Wort virtus ist so wenig der Begriff Tugend als
die Sache Tugend; aber es bedeutet zunächst den Begriff und
dann die Sache. Gerade weil das Wort bedeutet, ist es nicht
das, was es bedeutet. Im Begriffe des Bedeutens selbst liegt,
daß das Bedeutende und das Bedeutete von einander verschie-
den, und nicht bloß dies, sondern auch, daß das Bedeutete ab-
wesend oder versteckt sei. Denn gerade nur weil etwas nicht
gegenwärtig ist, nicht klar vorliegt und geschaut oder leicht wahr-
genommen werden kann, nur darum ersetzt man es durch etwas
anderes, welches gegenwärtig und offenbar ist, und welches durch
sich den ersten Gegenstand bedeutet oder verräth. Der menschliche
Körper bedeutet den menschlichen Geist, verräth ihn: so bedeu-
tet, verräth das Wort den Begriff; die Flagge mit ihren Far-
ben ist nicht die Nationalität: das Wort ist nicht der Begriff.

Wenn man das Wort als Begriff selbst nimmt, so muß man
die Sprache ein wahrhaft verpfuschtes Werk nennen. Denn wie
viele Wörter mögen wohl einen Begriff angemessen ausdrücken,
so daß mit der Etymologie des Wortes eine wahre Definition
des Begriffes gegeben wäre? Wahrscheinlich giebt es solche
Wörter gar nicht. Auch ist es gar nicht bloß der Ausdruck
abstracter Begriffe, wobei die Sprache ihre Schwäche verriethe;
sie ist nicht bloß zu concret und materiell: sie ist vielmehr an-
dererseits wieder zu abstract, und kann darum die Vorstellung
vom einfachsten Dinge nicht passend ausdrücken.

Zu einer logischen Classification oder Deduction der Wur-
zeln der Sprache, welche als Träger der Grundbedeutungen der
Wörter zugleich die Grundbegriffe unseres Begriffsschatzes ent-
halten, wie sie Becker erstrebt hat, giebt die Sprache nicht die

ausspricht, was dieselben bedeuten. Hier machen wir nur die
Reflexion, die man zu machen meist vergessen hat — wie man
überhaupt aus jener Thatsache bis heute noch nicht die ganze
Folge gezogen hat —, daß es doch nur der etymologische Sinn
ist, was das Wort eigentlich und an sich aussagt. Das Wort
bedeutet nun freilich auch noch etwas anderes, was oft sehr fern
von dem etymologischen Sinne liegt, den Begriff; woraus doch
aber eben nur folgt, daß das Wort nicht der Begriff ist, son-
dern nur den Begriff bedeutet.

Noch nie seit Menschengedenken mag jemand gefragt ha-
ben: was oder welcher Begriff ist dieses Wort? sondern immer
hat man gefragt: was oder welchen Begriff bedeutet dieses
Wort. Das Wort virtus ist so wenig der Begriff Tugend als
die Sache Tugend; aber es bedeutet zunächst den Begriff und
dann die Sache. Gerade weil das Wort bedeutet, ist es nicht
das, was es bedeutet. Im Begriffe des Bedeutens selbst liegt,
daß das Bedeutende und das Bedeutete von einander verschie-
den, und nicht bloß dies, sondern auch, daß das Bedeutete ab-
wesend oder versteckt sei. Denn gerade nur weil etwas nicht
gegenwärtig ist, nicht klar vorliegt und geschaut oder leicht wahr-
genommen werden kann, nur darum ersetzt man es durch etwas
anderes, welches gegenwärtig und offenbar ist, und welches durch
sich den ersten Gegenstand bedeutet oder verräth. Der menschliche
Körper bedeutet den menschlichen Geist, verräth ihn: so bedeu-
tet, verräth das Wort den Begriff; die Flagge mit ihren Far-
ben ist nicht die Nationalität: das Wort ist nicht der Begriff.

Wenn man das Wort als Begriff selbst nimmt, so muß man
die Sprache ein wahrhaft verpfuschtes Werk nennen. Denn wie
viele Wörter mögen wohl einen Begriff angemessen ausdrücken,
so daß mit der Etymologie des Wortes eine wahre Definition
des Begriffes gegeben wäre? Wahrscheinlich giebt es solche
Wörter gar nicht. Auch ist es gar nicht bloß der Ausdruck
abstracter Begriffe, wobei die Sprache ihre Schwäche verriethe;
sie ist nicht bloß zu concret und materiell: sie ist vielmehr an-
dererseits wieder zu abstract, und kann darum die Vorstellung
vom einfachsten Dinge nicht passend ausdrücken.

Zu einer logischen Classification oder Deduction der Wur-
zeln der Sprache, welche als Träger der Grundbedeutungen der
Wörter zugleich die Grundbegriffe unseres Begriffsschatzes ent-
halten, wie sie Becker erstrebt hat, giebt die Sprache nicht die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0203" n="165"/>
ausspricht, was dieselben bedeuten. Hier machen wir nur die<lb/>
Reflexion, die man zu machen meist vergessen hat &#x2014; wie man<lb/>
überhaupt aus jener Thatsache bis heute noch nicht die ganze<lb/>
Folge gezogen hat &#x2014;, daß es doch nur der etymologische Sinn<lb/>
ist, was das Wort eigentlich und an sich aussagt. Das Wort<lb/>
bedeutet nun freilich auch noch etwas anderes, was oft sehr fern<lb/>
von dem etymologischen Sinne liegt, den Begriff; woraus doch<lb/>
aber eben nur folgt, daß das Wort nicht der Begriff <hi rendition="#g">ist,</hi> son-<lb/>
dern nur den Begriff bedeutet.</p><lb/>
              <p>Noch nie seit Menschengedenken mag jemand gefragt ha-<lb/>
ben: was oder welcher Begriff <hi rendition="#g">ist</hi> dieses Wort? sondern immer<lb/>
hat man gefragt: was oder welchen Begriff <hi rendition="#g">bedeutet</hi> dieses<lb/>
Wort. Das Wort <hi rendition="#i">virtus</hi> <hi rendition="#g">ist</hi> so wenig der Begriff <hi rendition="#i">Tugend</hi> als<lb/>
die Sache <hi rendition="#i">Tugend;</hi> aber es <hi rendition="#g">bedeutet</hi> zunächst den Begriff und<lb/>
dann die Sache. Gerade weil das Wort bedeutet, ist es nicht<lb/>
das, was es bedeutet. Im Begriffe des Bedeutens selbst liegt,<lb/>
daß das Bedeutende und das Bedeutete von einander verschie-<lb/>
den, und nicht bloß dies, sondern auch, daß das Bedeutete ab-<lb/>
wesend oder versteckt sei. Denn gerade nur weil etwas nicht<lb/>
gegenwärtig ist, nicht klar vorliegt und geschaut oder leicht wahr-<lb/>
genommen werden kann, nur darum ersetzt man es durch etwas<lb/>
anderes, welches gegenwärtig und offenbar ist, und welches durch<lb/>
sich den ersten Gegenstand bedeutet oder verräth. Der menschliche<lb/>
Körper bedeutet den menschlichen Geist, verräth ihn: so bedeu-<lb/>
tet, verräth das Wort den Begriff; die Flagge mit ihren Far-<lb/>
ben <hi rendition="#g">ist</hi> nicht die Nationalität: das Wort ist nicht der Begriff.</p><lb/>
              <p>Wenn man das Wort als Begriff selbst nimmt, so muß man<lb/>
die Sprache ein wahrhaft verpfuschtes Werk nennen. Denn wie<lb/>
viele Wörter mögen wohl einen Begriff angemessen ausdrücken,<lb/>
so daß mit der Etymologie des Wortes eine wahre Definition<lb/>
des Begriffes gegeben wäre? Wahrscheinlich giebt es solche<lb/>
Wörter gar nicht. Auch ist es gar nicht bloß der Ausdruck<lb/>
abstracter Begriffe, wobei die Sprache ihre Schwäche verriethe;<lb/>
sie ist nicht bloß zu concret und materiell: sie ist vielmehr an-<lb/>
dererseits wieder zu abstract, und kann darum die Vorstellung<lb/>
vom einfachsten Dinge nicht passend ausdrücken.</p><lb/>
              <p>Zu einer logischen Classification oder Deduction der Wur-<lb/>
zeln der Sprache, welche als Träger der Grundbedeutungen der<lb/>
Wörter zugleich die Grundbegriffe unseres Begriffsschatzes ent-<lb/>
halten, wie sie Becker erstrebt hat, giebt die Sprache nicht die<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0203] ausspricht, was dieselben bedeuten. Hier machen wir nur die Reflexion, die man zu machen meist vergessen hat — wie man überhaupt aus jener Thatsache bis heute noch nicht die ganze Folge gezogen hat —, daß es doch nur der etymologische Sinn ist, was das Wort eigentlich und an sich aussagt. Das Wort bedeutet nun freilich auch noch etwas anderes, was oft sehr fern von dem etymologischen Sinne liegt, den Begriff; woraus doch aber eben nur folgt, daß das Wort nicht der Begriff ist, son- dern nur den Begriff bedeutet. Noch nie seit Menschengedenken mag jemand gefragt ha- ben: was oder welcher Begriff ist dieses Wort? sondern immer hat man gefragt: was oder welchen Begriff bedeutet dieses Wort. Das Wort virtus ist so wenig der Begriff Tugend als die Sache Tugend; aber es bedeutet zunächst den Begriff und dann die Sache. Gerade weil das Wort bedeutet, ist es nicht das, was es bedeutet. Im Begriffe des Bedeutens selbst liegt, daß das Bedeutende und das Bedeutete von einander verschie- den, und nicht bloß dies, sondern auch, daß das Bedeutete ab- wesend oder versteckt sei. Denn gerade nur weil etwas nicht gegenwärtig ist, nicht klar vorliegt und geschaut oder leicht wahr- genommen werden kann, nur darum ersetzt man es durch etwas anderes, welches gegenwärtig und offenbar ist, und welches durch sich den ersten Gegenstand bedeutet oder verräth. Der menschliche Körper bedeutet den menschlichen Geist, verräth ihn: so bedeu- tet, verräth das Wort den Begriff; die Flagge mit ihren Far- ben ist nicht die Nationalität: das Wort ist nicht der Begriff. Wenn man das Wort als Begriff selbst nimmt, so muß man die Sprache ein wahrhaft verpfuschtes Werk nennen. Denn wie viele Wörter mögen wohl einen Begriff angemessen ausdrücken, so daß mit der Etymologie des Wortes eine wahre Definition des Begriffes gegeben wäre? Wahrscheinlich giebt es solche Wörter gar nicht. Auch ist es gar nicht bloß der Ausdruck abstracter Begriffe, wobei die Sprache ihre Schwäche verriethe; sie ist nicht bloß zu concret und materiell: sie ist vielmehr an- dererseits wieder zu abstract, und kann darum die Vorstellung vom einfachsten Dinge nicht passend ausdrücken. Zu einer logischen Classification oder Deduction der Wur- zeln der Sprache, welche als Träger der Grundbedeutungen der Wörter zugleich die Grundbegriffe unseres Begriffsschatzes ent- halten, wie sie Becker erstrebt hat, giebt die Sprache nicht die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/203
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/203>, abgerufen am 19.04.2024.