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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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zwar jeder Satz eine Verbindung von Begriffen enthält, wodurch
etwas ausgesagt wird; daß aber darum noch nicht jeder Satz
auch ein Urtheil darstellt, das der Beurtheilung der Logik an-
heimfiele. Denn die Frage, ob die Aussage richtig sei oder
nicht, welche an jedes Urtheil muß gerichtet werden können,
kann bei vielen Sätzen, wie den Frag- und Wunschsätzen gar
nicht angewandt werden. Da aber das Urtheil ein logisches
Wesen ist, so ist jene Frage ein Erkennungsmittel, ob ein Satz
ein Urtheil enthält oder nicht. Giebt es also Sätze, welche
keine Urtheile sind, so sind auch Satz und Urtheil wesentlich
verschieden.

§. 67. Das hypothetische und disjunctive Urtheil.

Das Auseinanderfallen von Satz und Urtheil zeigt sich nun
weiter darin, daß manches logische Urtheil in der sprachlichen
Darstellung durch zwei, sogar durch vier Sätze ausgedrückt
wird, und umgekehrt mancher Satz vier und mehr Urtheile in
sich schließt. Das hypothetische Urtheil in einfachster Gestalt
lautet nach der allgemeinen Formel: wenn A ist, so ist B; z. B.
wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist, so wird der be-
harrlich Böse bestraft. Hier wird ein Urtheil durch zwei Sätze
ausgedrückt. Das Urtheil liegt in keinem der beiden Sätze, sondern
nur in dem Verhältnisse beider. Denn es wird gar nicht geur-
theilt: es ist eine vollkommene Gerechtigkeit da, und: der be-
harrlich Böse wird bestraft; sondern es ist nur der Zusammen-
hang beider Sätze, "es ist nur die Consequenz, die durch jenes
Urtheil gedacht wird" (Kant). Es sind also hier zwei Sätze,
welche keine Urtheile aussprechen; und andererseits liegt hier
ein Urtheil vor, das jenseits der Sätze liegt: also sind Urtheil
und Satz von einander geschieden.

Man kann die Formel des hypothetischen Urtheils erwei-
tern, so daß es sich durch vier Sätze ausspricht: angenommen
daß, wenn A ist, dann B ist: so wird, wenn C ist, dann D sein.
Hierdurch wird an der Sache nichts Wesentliches geändert; wir
haben bloß dasselbe Verhältniß doppelt oder vielmehr dreifach.

In ganz ähnlicher Weise, wie mit den hypothetischen Ur-
theilen, verhält es sich mit den disjunctiven. Man betrachte
z. B.: die Welt ist entweder durch einen blinden Zufall da, oder
sie ist durch eine innere Nothwendigkeit entstanden, oder eine
äußere Ursache hat sie hervorgebracht; oder die allgemeine
Formel: m ist entweder a oder b oder c. Hier spricht sich ein

zwar jeder Satz eine Verbindung von Begriffen enthält, wodurch
etwas ausgesagt wird; daß aber darum noch nicht jeder Satz
auch ein Urtheil darstellt, das der Beurtheilung der Logik an-
heimfiele. Denn die Frage, ob die Aussage richtig sei oder
nicht, welche an jedes Urtheil muß gerichtet werden können,
kann bei vielen Sätzen, wie den Frag- und Wunschsätzen gar
nicht angewandt werden. Da aber das Urtheil ein logisches
Wesen ist, so ist jene Frage ein Erkennungsmittel, ob ein Satz
ein Urtheil enthält oder nicht. Giebt es also Sätze, welche
keine Urtheile sind, so sind auch Satz und Urtheil wesentlich
verschieden.

§. 67. Das hypothetische und disjunctive Urtheil.

Das Auseinanderfallen von Satz und Urtheil zeigt sich nun
weiter darin, daß manches logische Urtheil in der sprachlichen
Darstellung durch zwei, sogar durch vier Sätze ausgedrückt
wird, und umgekehrt mancher Satz vier und mehr Urtheile in
sich schließt. Das hypothetische Urtheil in einfachster Gestalt
lautet nach der allgemeinen Formel: wenn A ist, so ist B; z. B.
wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist, so wird der be-
harrlich Böse bestraft. Hier wird ein Urtheil durch zwei Sätze
ausgedrückt. Das Urtheil liegt in keinem der beiden Sätze, sondern
nur in dem Verhältnisse beider. Denn es wird gar nicht geur-
theilt: es ist eine vollkommene Gerechtigkeit da, und: der be-
harrlich Böse wird bestraft; sondern es ist nur der Zusammen-
hang beider Sätze, „es ist nur die Consequenz, die durch jenes
Urtheil gedacht wird“ (Kant). Es sind also hier zwei Sätze,
welche keine Urtheile aussprechen; und andererseits liegt hier
ein Urtheil vor, das jenseits der Sätze liegt: also sind Urtheil
und Satz von einander geschieden.

Man kann die Formel des hypothetischen Urtheils erwei-
tern, so daß es sich durch vier Sätze ausspricht: angenommen
daß, wenn A ist, dann B ist: so wird, wenn C ist, dann D sein.
Hierdurch wird an der Sache nichts Wesentliches geändert; wir
haben bloß dasselbe Verhältniß doppelt oder vielmehr dreifach.

In ganz ähnlicher Weise, wie mit den hypothetischen Ur-
theilen, verhält es sich mit den disjunctiven. Man betrachte
z. B.: die Welt ist entweder durch einen blinden Zufall da, oder
sie ist durch eine innere Nothwendigkeit entstanden, oder eine
äußere Ursache hat sie hervorgebracht; oder die allgemeine
Formel: m ist entweder a oder b oder c. Hier spricht sich ein

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[169/0207] zwar jeder Satz eine Verbindung von Begriffen enthält, wodurch etwas ausgesagt wird; daß aber darum noch nicht jeder Satz auch ein Urtheil darstellt, das der Beurtheilung der Logik an- heimfiele. Denn die Frage, ob die Aussage richtig sei oder nicht, welche an jedes Urtheil muß gerichtet werden können, kann bei vielen Sätzen, wie den Frag- und Wunschsätzen gar nicht angewandt werden. Da aber das Urtheil ein logisches Wesen ist, so ist jene Frage ein Erkennungsmittel, ob ein Satz ein Urtheil enthält oder nicht. Giebt es also Sätze, welche keine Urtheile sind, so sind auch Satz und Urtheil wesentlich verschieden. §. 67. Das hypothetische und disjunctive Urtheil. Das Auseinanderfallen von Satz und Urtheil zeigt sich nun weiter darin, daß manches logische Urtheil in der sprachlichen Darstellung durch zwei, sogar durch vier Sätze ausgedrückt wird, und umgekehrt mancher Satz vier und mehr Urtheile in sich schließt. Das hypothetische Urtheil in einfachster Gestalt lautet nach der allgemeinen Formel: wenn A ist, so ist B; z. B. wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist, so wird der be- harrlich Böse bestraft. Hier wird ein Urtheil durch zwei Sätze ausgedrückt. Das Urtheil liegt in keinem der beiden Sätze, sondern nur in dem Verhältnisse beider. Denn es wird gar nicht geur- theilt: es ist eine vollkommene Gerechtigkeit da, und: der be- harrlich Böse wird bestraft; sondern es ist nur der Zusammen- hang beider Sätze, „es ist nur die Consequenz, die durch jenes Urtheil gedacht wird“ (Kant). Es sind also hier zwei Sätze, welche keine Urtheile aussprechen; und andererseits liegt hier ein Urtheil vor, das jenseits der Sätze liegt: also sind Urtheil und Satz von einander geschieden. Man kann die Formel des hypothetischen Urtheils erwei- tern, so daß es sich durch vier Sätze ausspricht: angenommen daß, wenn A ist, dann B ist: so wird, wenn C ist, dann D sein. Hierdurch wird an der Sache nichts Wesentliches geändert; wir haben bloß dasselbe Verhältniß doppelt oder vielmehr dreifach. In ganz ähnlicher Weise, wie mit den hypothetischen Ur- theilen, verhält es sich mit den disjunctiven. Man betrachte z. B.: die Welt ist entweder durch einen blinden Zufall da, oder sie ist durch eine innere Nothwendigkeit entstanden, oder eine äußere Ursache hat sie hervorgebracht; oder die allgemeine Formel: m ist entweder a oder b oder c. Hier spricht sich ein

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/207>, abgerufen am 24.04.2024.