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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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oder Falsches liegen; aber die Behauptung, daß der Blinde die-
sen Wunsch habe, kann allerdings wahr oder falsch sein. Eben
so ist es dem Wahrheitsforscher anheimgegeben und unabweis-
liches Bedürfniß, zu fragen, ob es wahr ist oder nicht, daß eine
nach Zwecken schaffende Macht dem Auge brechende Medien,
dem menschlichen Körper die aufrechte Stellung gegeben habe,
und ob sie gerade diesen Zweck gehabt habe oder einen andern.
Das Ergebniß wird sich dann in irgend einer Form der Ur-
theile aussprechen, assertorisch oder problematisch: das giebt
noch kein Zweckurtheil. Ob einem Subject eine bloße Eigen-
schaft, oder eine Handlung, oder der Zweck einer Handlung zu-
geschrieben wird, oder auch die Ursache einer Handlung: alles
das kann den sprachlichen Ausdruck abändern, aber nicht ver-
schiedene Urtheilsformen begründen. Das Zweckverhältniß tritt
hier gar nicht nach seiner specifischen Eigenschaft auf, sondern
ganz allgemein als Prädicat.

Wo bringt denn nun Trendelenburg die Zwecksätze hin?
Oder vielmehr in welcher Stelle seines Systems der Urtheile hat
das Zweckurtheil Platz gefunden? Unter den hypothetischen
Urtheilen! Denn die Urtheile: "das Auge hat brechende Me-
dien, damit es sehe" und "wenn das Auge sehen sollte, mußte
es brechende Medien haben" haben denselben Inhalt. Eben
darum, sagen wir, ist ihre Verschiedenheit eine bloß grammati-
sche. Bloß grammatisch und gar nicht logisch ist von jenen
beiden Sätzen noch folgender dritte verschieden: "das Auge hat
um des Sehens willen brechende Medien"; ist das nun auch ein
Zwecksatz? -- Wenn ich nun ferner sage: "das Auge sieht,
weil es brechende Medien hat"; oder: "das Auge kann der
brechenden Medien wegen sehen": so haben wir in diesen drei
Sätzen grammatisch gleiche Formen, wie in den obigen; und
wie logisch? Insofern der Zwecksatz wahr oder falsch sein
kann, bildet er keine besondere Art der Urtheile; denn die
Verbindung eines Zweckes mit einer Thatsache oder Person ist
eine einfache Aussage, wie jede andere, und fällt den gewöhn-
lichen Kategorien des Urtheils anheim; insofern aber der Zweck-
satz an sich betrachtet wird, abgelöst von der Person oder That-
sache, enthält er, wie der Wunsch, weder Wahres noch Fal-
sches, ist folglich kein Urtheil. Eben so ist es mit den ent-
sprechenden Causalsätzen. Wir könnten endlich nur noch be-
merken, daß die bisherige formale Logik rücksichtlich der Zweck-

oder Falsches liegen; aber die Behauptung, daß der Blinde die-
sen Wunsch habe, kann allerdings wahr oder falsch sein. Eben
so ist es dem Wahrheitsforscher anheimgegeben und unabweis-
liches Bedürfniß, zu fragen, ob es wahr ist oder nicht, daß eine
nach Zwecken schaffende Macht dem Auge brechende Medien,
dem menschlichen Körper die aufrechte Stellung gegeben habe,
und ob sie gerade diesen Zweck gehabt habe oder einen andern.
Das Ergebniß wird sich dann in irgend einer Form der Ur-
theile aussprechen, assertorisch oder problematisch: das giebt
noch kein Zweckurtheil. Ob einem Subject eine bloße Eigen-
schaft, oder eine Handlung, oder der Zweck einer Handlung zu-
geschrieben wird, oder auch die Ursache einer Handlung: alles
das kann den sprachlichen Ausdruck abändern, aber nicht ver-
schiedene Urtheilsformen begründen. Das Zweckverhältniß tritt
hier gar nicht nach seiner specifischen Eigenschaft auf, sondern
ganz allgemein als Prädicat.

Wo bringt denn nun Trendelenburg die Zwecksätze hin?
Oder vielmehr in welcher Stelle seines Systems der Urtheile hat
das Zweckurtheil Platz gefunden? Unter den hypothetischen
Urtheilen! Denn die Urtheile: „das Auge hat brechende Me-
dien, damit es sehe“ und „wenn das Auge sehen sollte, mußte
es brechende Medien haben“ haben denselben Inhalt. Eben
darum, sagen wir, ist ihre Verschiedenheit eine bloß grammati-
sche. Bloß grammatisch und gar nicht logisch ist von jenen
beiden Sätzen noch folgender dritte verschieden: „das Auge hat
um des Sehens willen brechende Medien“; ist das nun auch ein
Zwecksatz? — Wenn ich nun ferner sage: „das Auge sieht,
weil es brechende Medien hat“; oder: „das Auge kann der
brechenden Medien wegen sehen“: so haben wir in diesen drei
Sätzen grammatisch gleiche Formen, wie in den obigen; und
wie logisch? Insofern der Zwecksatz wahr oder falsch sein
kann, bildet er keine besondere Art der Urtheile; denn die
Verbindung eines Zweckes mit einer Thatsache oder Person ist
eine einfache Aussage, wie jede andere, und fällt den gewöhn-
lichen Kategorien des Urtheils anheim; insofern aber der Zweck-
satz an sich betrachtet wird, abgelöst von der Person oder That-
sache, enthält er, wie der Wunsch, weder Wahres noch Fal-
sches, ist folglich kein Urtheil. Eben so ist es mit den ent-
sprechenden Causalsätzen. Wir könnten endlich nur noch be-
merken, daß die bisherige formale Logik rücksichtlich der Zweck-

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[178/0216] oder Falsches liegen; aber die Behauptung, daß der Blinde die- sen Wunsch habe, kann allerdings wahr oder falsch sein. Eben so ist es dem Wahrheitsforscher anheimgegeben und unabweis- liches Bedürfniß, zu fragen, ob es wahr ist oder nicht, daß eine nach Zwecken schaffende Macht dem Auge brechende Medien, dem menschlichen Körper die aufrechte Stellung gegeben habe, und ob sie gerade diesen Zweck gehabt habe oder einen andern. Das Ergebniß wird sich dann in irgend einer Form der Ur- theile aussprechen, assertorisch oder problematisch: das giebt noch kein Zweckurtheil. Ob einem Subject eine bloße Eigen- schaft, oder eine Handlung, oder der Zweck einer Handlung zu- geschrieben wird, oder auch die Ursache einer Handlung: alles das kann den sprachlichen Ausdruck abändern, aber nicht ver- schiedene Urtheilsformen begründen. Das Zweckverhältniß tritt hier gar nicht nach seiner specifischen Eigenschaft auf, sondern ganz allgemein als Prädicat. Wo bringt denn nun Trendelenburg die Zwecksätze hin? Oder vielmehr in welcher Stelle seines Systems der Urtheile hat das Zweckurtheil Platz gefunden? Unter den hypothetischen Urtheilen! Denn die Urtheile: „das Auge hat brechende Me- dien, damit es sehe“ und „wenn das Auge sehen sollte, mußte es brechende Medien haben“ haben denselben Inhalt. Eben darum, sagen wir, ist ihre Verschiedenheit eine bloß grammati- sche. Bloß grammatisch und gar nicht logisch ist von jenen beiden Sätzen noch folgender dritte verschieden: „das Auge hat um des Sehens willen brechende Medien“; ist das nun auch ein Zwecksatz? — Wenn ich nun ferner sage: „das Auge sieht, weil es brechende Medien hat“; oder: „das Auge kann der brechenden Medien wegen sehen“: so haben wir in diesen drei Sätzen grammatisch gleiche Formen, wie in den obigen; und wie logisch? Insofern der Zwecksatz wahr oder falsch sein kann, bildet er keine besondere Art der Urtheile; denn die Verbindung eines Zweckes mit einer Thatsache oder Person ist eine einfache Aussage, wie jede andere, und fällt den gewöhn- lichen Kategorien des Urtheils anheim; insofern aber der Zweck- satz an sich betrachtet wird, abgelöst von der Person oder That- sache, enthält er, wie der Wunsch, weder Wahres noch Fal- sches, ist folglich kein Urtheil. Eben so ist es mit den ent- sprechenden Causalsätzen. Wir könnten endlich nur noch be- merken, daß die bisherige formale Logik rücksichtlich der Zweck-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/216>, abgerufen am 24.04.2024.