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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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sagt z. B. vom Verbum substantivum sein (§. 58. S. 223):
"Auch ist es allen Sprachen gemein; und es scheint nur darum
einigen Sprachen zu fehlen, weil es in ihnen in einer uns unge-
wöhnlichen Form hervortritt." Das Verbum substantivum aber
ist eben nur eine Form; und wenn diese Form nicht in dieser
Form als diese Form, das Verbum substantivum als Verbum
substantivum und im Verbum substantivum sich vorfindet: so
ist diese Form, dieses Verbum substantivum, überhaupt und ganz
und gar nicht vorhanden. Der wichtigen Thatsache, daß der
größte Theil aller Sprachen der Erde kein Verbum substanti-
vum, noch nicht einmal ein Verbum der Existenz hat, ja daß
genau genommen am Ende nur der indoeuropäische Stamm es
in Wahrheit besitzen mag -- einer Thatsache, bestätigt durch
Missionäre, welche ihr Leben unter den Völkern verbracht ha-
ben, über deren Sprachen sie berichten, welche eine sorgfältige
Kenntniß dieser Sprachen und Geist und Urtheilskraft über-
haupt zeigen; bestätigt durch Humboldt und nicht bloß bestä-
tigt, sondern selbst verstärkt durch ihn, indem er durch feine
analytische Untersuchungen der grammatischen Formen die ge-
legentlichen Scheinformen des Verbum substantivum bloß legte
-- solchen Thatsachen und solchen Forschungen stellt Becker
ein in sich selbst undenkbares, sinnloses "scheint" gegenüber!

§. 73. Prädicat und Attribut.

Der wesentlichste Punkt ist die Unterscheidung zwischen
der prädicativen und attributiven Verbindung. Was lehrt
also die Logik über diesen Unterschied? -- Die Logik? gar
nichts; sie kennt ihn gar nicht! Die Logik kennt einen Begriff A
und einen Begriff B, welche durch Umfang und Inhalt in man-
cherlei Beziehungen zu einander stehen können: diese Begriffe
sind ihr gegeben. Ebenso wie die Begriffe, deren Beziehungen
sie darlegt, ist der Logik die Verbindung der Begriffe A + B
gegeben und diese Verbindung nennt sie ein Urtheil. Worauf
nun auch immer diese Verbindung zweier Begriffe beruhen mag,
sei es daß sie ein zufälliges Geschehen ist, welches zwei ge-
sonderte und für sich vorhandene Begriffe erfahren, sei es daß
sie nur die differente Form einer ursprünglichen Einheit ist --
diese Frage geht die formale Logik nichts an -- die Logik,
auch die metaphysische, Begriff und Urtheil deducirende Logik,
kennt als Urtheil nur A + B oder A = B, oder wie man das
logische Verhältniß der Begriffe im Urtheile bezeichnen mag.

sagt z. B. vom Verbum substantivum sein (§. 58. S. 223):
„Auch ist es allen Sprachen gemein; und es scheint nur darum
einigen Sprachen zu fehlen, weil es in ihnen in einer uns unge-
wöhnlichen Form hervortritt.“ Das Verbum substantivum aber
ist eben nur eine Form; und wenn diese Form nicht in dieser
Form als diese Form, das Verbum substantivum als Verbum
substantivum und im Verbum substantivum sich vorfindet: so
ist diese Form, dieses Verbum substantivum, überhaupt und ganz
und gar nicht vorhanden. Der wichtigen Thatsache, daß der
größte Theil aller Sprachen der Erde kein Verbum substanti-
vum, noch nicht einmal ein Verbum der Existenz hat, ja daß
genau genommen am Ende nur der indoeuropäische Stamm es
in Wahrheit besitzen mag — einer Thatsache, bestätigt durch
Missionäre, welche ihr Leben unter den Völkern verbracht ha-
ben, über deren Sprachen sie berichten, welche eine sorgfältige
Kenntniß dieser Sprachen und Geist und Urtheilskraft über-
haupt zeigen; bestätigt durch Humboldt und nicht bloß bestä-
tigt, sondern selbst verstärkt durch ihn, indem er durch feine
analytische Untersuchungen der grammatischen Formen die ge-
legentlichen Scheinformen des Verbum substantivum bloß legte
— solchen Thatsachen und solchen Forschungen stellt Becker
ein in sich selbst undenkbares, sinnloses „scheint“ gegenüber!

§. 73. Prädicat und Attribut.

Der wesentlichste Punkt ist die Unterscheidung zwischen
der prädicativen und attributiven Verbindung. Was lehrt
also die Logik über diesen Unterschied? — Die Logik? gar
nichts; sie kennt ihn gar nicht! Die Logik kennt einen Begriff A
und einen Begriff B, welche durch Umfang und Inhalt in man-
cherlei Beziehungen zu einander stehen können: diese Begriffe
sind ihr gegeben. Ebenso wie die Begriffe, deren Beziehungen
sie darlegt, ist der Logik die Verbindung der Begriffe A + B
gegeben und diese Verbindung nennt sie ein Urtheil. Worauf
nun auch immer diese Verbindung zweier Begriffe beruhen mag,
sei es daß sie ein zufälliges Geschehen ist, welches zwei ge-
sonderte und für sich vorhandene Begriffe erfahren, sei es daß
sie nur die differente Form einer ursprünglichen Einheit ist —
diese Frage geht die formale Logik nichts an — die Logik,
auch die metaphysische, Begriff und Urtheil deducirende Logik,
kennt als Urtheil nur A + B oder A = B, oder wie man das
logische Verhältniß der Begriffe im Urtheile bezeichnen mag.

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[185/0223] sagt z. B. vom Verbum substantivum sein (§. 58. S. 223): „Auch ist es allen Sprachen gemein; und es scheint nur darum einigen Sprachen zu fehlen, weil es in ihnen in einer uns unge- wöhnlichen Form hervortritt.“ Das Verbum substantivum aber ist eben nur eine Form; und wenn diese Form nicht in dieser Form als diese Form, das Verbum substantivum als Verbum substantivum und im Verbum substantivum sich vorfindet: so ist diese Form, dieses Verbum substantivum, überhaupt und ganz und gar nicht vorhanden. Der wichtigen Thatsache, daß der größte Theil aller Sprachen der Erde kein Verbum substanti- vum, noch nicht einmal ein Verbum der Existenz hat, ja daß genau genommen am Ende nur der indoeuropäische Stamm es in Wahrheit besitzen mag — einer Thatsache, bestätigt durch Missionäre, welche ihr Leben unter den Völkern verbracht ha- ben, über deren Sprachen sie berichten, welche eine sorgfältige Kenntniß dieser Sprachen und Geist und Urtheilskraft über- haupt zeigen; bestätigt durch Humboldt und nicht bloß bestä- tigt, sondern selbst verstärkt durch ihn, indem er durch feine analytische Untersuchungen der grammatischen Formen die ge- legentlichen Scheinformen des Verbum substantivum bloß legte — solchen Thatsachen und solchen Forschungen stellt Becker ein in sich selbst undenkbares, sinnloses „scheint“ gegenüber! §. 73. Prädicat und Attribut. Der wesentlichste Punkt ist die Unterscheidung zwischen der prädicativen und attributiven Verbindung. Was lehrt also die Logik über diesen Unterschied? — Die Logik? gar nichts; sie kennt ihn gar nicht! Die Logik kennt einen Begriff A und einen Begriff B, welche durch Umfang und Inhalt in man- cherlei Beziehungen zu einander stehen können: diese Begriffe sind ihr gegeben. Ebenso wie die Begriffe, deren Beziehungen sie darlegt, ist der Logik die Verbindung der Begriffe A + B gegeben und diese Verbindung nennt sie ein Urtheil. Worauf nun auch immer diese Verbindung zweier Begriffe beruhen mag, sei es daß sie ein zufälliges Geschehen ist, welches zwei ge- sonderte und für sich vorhandene Begriffe erfahren, sei es daß sie nur die differente Form einer ursprünglichen Einheit ist — diese Frage geht die formale Logik nichts an — die Logik, auch die metaphysische, Begriff und Urtheil deducirende Logik, kennt als Urtheil nur A + B oder A = B, oder wie man das logische Verhältniß der Begriffe im Urtheile bezeichnen mag.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/223>, abgerufen am 23.04.2024.