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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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begeht, dieses poetische Denken am verständigen logischen Den-
ken zu messen. Diese Gedanken sind nicht logisch, also auch
nicht unlogisch, d. h. nicht antilogisch. Eben darum lassen sie
eine Uebersetzung in logisches Denken zu und entsprechen dann
allen Gesetzen desselben. Man kann obige Verse in die strenge
Form eines logischen Schlusses bringen.

Man wird also zugestehen müssen, daß es mehrere Denk-
weisen geben könne und giebt; daß die gewöhnliche Logik nur
die Gesetze des verständigen Denkens entwickelt, wogegen die
andern Denkweisen ihren eigenen Gang, ihre eigene Logik ha-
ben. Es soll der Logik des Verstandes weder der Vorrang,
noch ihr Recht, die andern zur Rechenschaft zu ziehen, in sie
einzugreifen, sie zu überwachen, die Grenzen ihrer Herrschaft
zu bestimmen, abgesprochen werden; aber die andern Logiken,
so zu sagen, sind von ihr verschieden und innerhalb ihres Kreises
Selbstherrscher, nach Gesetzen waltend, die sie sich selbst geben.

So darf man nun auch die Chemie die Logik der natürlichen
Körper, die Physik die Logik der physischen Bewegungen nen-
nen; aber die Logik der Natur ist nicht die Logik des Verstan-
des: diese beiden Logiken identificiren, ist sehr unlogisch.

Fassen wir nun zusammen. Ist die Sprache nicht unzer-
trennlich vom Denken, begleitet sie aber dennoch andrerseits
dasselbe meistentheils; -- giebt es mehrere Denkweisen und folg-
lich mehrere Logiken, und verbindet sich die Sprache mit ihnen
allen, mit jeder so gut wie mit der andern, jedoch so, daß sie
das Denken immer nur begleitet, aber dabei ihren eigenen Gang
geht, ihren eigenen Gesetzen folgt, ihre eigenen Kategorien offen-
bart; -- ist also die Sprache weder mit dem Denken überhaupt,
noch mit einer besondern Weise desselben identisch, und ist sie
dennoch mehr als bloßes Tönen, ein bedeutungsvolles Tönen mit
eigenthümlichen Begriffen und Verbindungen derselben: so scheint
sich nur die eine Annahme zu empfehlen, daß auch die Sprache
ein ganz eigenthümliches Denken sei und sich nach gewissen,
diesem Denken besonders angehörenden Gesetzen und Katego-
rien entfalte, welche eben die Grammatik darstellt.

Was sich hier als eine Vermuthung darstellt, worauf die
gewonnenen negativen Resultate hinweisen, das mag im Folgen-
den positiv begründet und näher erörtert werden.

begeht, dieses poetische Denken am verständigen logischen Den-
ken zu messen. Diese Gedanken sind nicht logisch, also auch
nicht unlogisch, d. h. nicht antilogisch. Eben darum lassen sie
eine Uebersetzung in logisches Denken zu und entsprechen dann
allen Gesetzen desselben. Man kann obige Verse in die strenge
Form eines logischen Schlusses bringen.

Man wird also zugestehen müssen, daß es mehrere Denk-
weisen geben könne und giebt; daß die gewöhnliche Logik nur
die Gesetze des verständigen Denkens entwickelt, wogegen die
andern Denkweisen ihren eigenen Gang, ihre eigene Logik ha-
ben. Es soll der Logik des Verstandes weder der Vorrang,
noch ihr Recht, die andern zur Rechenschaft zu ziehen, in sie
einzugreifen, sie zu überwachen, die Grenzen ihrer Herrschaft
zu bestimmen, abgesprochen werden; aber die andern Logiken,
so zu sagen, sind von ihr verschieden und innerhalb ihres Kreises
Selbstherrscher, nach Gesetzen waltend, die sie sich selbst geben.

So darf man nun auch die Chemie die Logik der natürlichen
Körper, die Physik die Logik der physischen Bewegungen nen-
nen; aber die Logik der Natur ist nicht die Logik des Verstan-
des: diese beiden Logiken identificiren, ist sehr unlogisch.

Fassen wir nun zusammen. Ist die Sprache nicht unzer-
trennlich vom Denken, begleitet sie aber dennoch andrerseits
dasselbe meistentheils; — giebt es mehrere Denkweisen und folg-
lich mehrere Logiken, und verbindet sich die Sprache mit ihnen
allen, mit jeder so gut wie mit der andern, jedoch so, daß sie
das Denken immer nur begleitet, aber dabei ihren eigenen Gang
geht, ihren eigenen Gesetzen folgt, ihre eigenen Kategorien offen-
bart; — ist also die Sprache weder mit dem Denken überhaupt,
noch mit einer besondern Weise desselben identisch, und ist sie
dennoch mehr als bloßes Tönen, ein bedeutungsvolles Tönen mit
eigenthümlichen Begriffen und Verbindungen derselben: so scheint
sich nur die eine Annahme zu empfehlen, daß auch die Sprache
ein ganz eigenthümliches Denken sei und sich nach gewissen,
diesem Denken besonders angehörenden Gesetzen und Katego-
rien entfalte, welche eben die Grammatik darstellt.

Was sich hier als eine Vermuthung darstellt, worauf die
gewonnenen negativen Resultate hinweisen, das mag im Folgen-
den positiv begründet und näher erörtert werden.

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[224/0262] begeht, dieses poetische Denken am verständigen logischen Den- ken zu messen. Diese Gedanken sind nicht logisch, also auch nicht unlogisch, d. h. nicht antilogisch. Eben darum lassen sie eine Uebersetzung in logisches Denken zu und entsprechen dann allen Gesetzen desselben. Man kann obige Verse in die strenge Form eines logischen Schlusses bringen. Man wird also zugestehen müssen, daß es mehrere Denk- weisen geben könne und giebt; daß die gewöhnliche Logik nur die Gesetze des verständigen Denkens entwickelt, wogegen die andern Denkweisen ihren eigenen Gang, ihre eigene Logik ha- ben. Es soll der Logik des Verstandes weder der Vorrang, noch ihr Recht, die andern zur Rechenschaft zu ziehen, in sie einzugreifen, sie zu überwachen, die Grenzen ihrer Herrschaft zu bestimmen, abgesprochen werden; aber die andern Logiken, so zu sagen, sind von ihr verschieden und innerhalb ihres Kreises Selbstherrscher, nach Gesetzen waltend, die sie sich selbst geben. So darf man nun auch die Chemie die Logik der natürlichen Körper, die Physik die Logik der physischen Bewegungen nen- nen; aber die Logik der Natur ist nicht die Logik des Verstan- des: diese beiden Logiken identificiren, ist sehr unlogisch. Fassen wir nun zusammen. Ist die Sprache nicht unzer- trennlich vom Denken, begleitet sie aber dennoch andrerseits dasselbe meistentheils; — giebt es mehrere Denkweisen und folg- lich mehrere Logiken, und verbindet sich die Sprache mit ihnen allen, mit jeder so gut wie mit der andern, jedoch so, daß sie das Denken immer nur begleitet, aber dabei ihren eigenen Gang geht, ihren eigenen Gesetzen folgt, ihre eigenen Kategorien offen- bart; — ist also die Sprache weder mit dem Denken überhaupt, noch mit einer besondern Weise desselben identisch, und ist sie dennoch mehr als bloßes Tönen, ein bedeutungsvolles Tönen mit eigenthümlichen Begriffen und Verbindungen derselben: so scheint sich nur die eine Annahme zu empfehlen, daß auch die Sprache ein ganz eigenthümliches Denken sei und sich nach gewissen, diesem Denken besonders angehörenden Gesetzen und Katego- rien entfalte, welche eben die Grammatik darstellt. Was sich hier als eine Vermuthung darstellt, worauf die gewonnenen negativen Resultate hinweisen, das mag im Folgen- den positiv begründet und näher erörtert werden.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/262>, abgerufen am 25.04.2024.