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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Noch eine andere Betrachtung kann ebenfalls die Ungehö-
rigkeit einer Definition der Sprache erweisen. Eine Definition
kann, wie ein Gemälde, nur etwas Ruhendes oder nur einen
Augenblick darstellen. Wie soll sie etwas bestimmen, das nicht
bloß in sich mannigfaltig ist, sondern das sich auch durch meh-
rere Stufen hindurch entwickelt und auf jeder Stufe ein verschie-
denes, reicheres, gebildeteres Wesen zeigt und in andere Ver-
hältnisse nach innen und außen tritt? Und so verhält es sich
mit der Sprache. Wenn man fragt, wie sie ist, so lautet die
richtige Antwort: sie ist, was sie wird; d. h. ihre Definition
liegt in ihrer Entwickelung.

1. Entstehung und Entwickelung der Sprache.

Es ist bei jeder Untersuchung von größter Wichtigkeit,
klar darüber zu sein, was man sucht. Ueber falsch gestellte,
unklar gedachte Fragen kann man Jahrhunderte streiten, ohne
daß man sich der Sache in Wahrheit nähert; man geht vor-
wärts, aber ins Blaue. Die richtige Stellung der Frage schließt
oft die Lösung gewissermaßen schon in sich, und ist in jedem
Falle der erste Schritt zu ihr, und wär' es auch nur, daß sie
durch sich selbst lehrte: nur die Frage gebührt dem Menschen;
es gehört ihm nicht die Antwort.

Gehen wir also an die Untersuchung des Ursprungs der
Sprache nicht ohne vorher gesehen zu haben, welche Forderung
diese Frage in sich schließt, welche Bedeutung sie nur haben
kann.

§. 85. Stellung der Aufgabe.

Man macht einen Unterschied zwischen der Anfertigung
eines Dinges und der Erfindung desselben, und nur letztere
scheint das eigentlich Große und Bemerkenswerthe. Die erste
Räder-Uhr, die erste Dampfmaschine, die man construirt hat,
zieht die Neugier an, nicht die Hunderttausende, die man dar-
auf aller Orten gebaut hat, die wie die Schatten jener ersten
erscheinen. Erfinden ist das Schwere, Nachahmen und Lernen
geht von selbst. Wie die Erfindung gemacht worden ist, wie
die Sache angefangen hat, wie man auf den Einfall gekommen
ist, wie man den glücklichen Einfall verfolgt hat: das möchte
man wissen. Gerade so hat man -- bis heute, kann man sa-
gen -- von einer Erfindung der Sprache durch die Urmenschen
geredet. Erfindung will man es nun freilich nicht mehr nennen;

15*

Noch eine andere Betrachtung kann ebenfalls die Ungehö-
rigkeit einer Definition der Sprache erweisen. Eine Definition
kann, wie ein Gemälde, nur etwas Ruhendes oder nur einen
Augenblick darstellen. Wie soll sie etwas bestimmen, das nicht
bloß in sich mannigfaltig ist, sondern das sich auch durch meh-
rere Stufen hindurch entwickelt und auf jeder Stufe ein verschie-
denes, reicheres, gebildeteres Wesen zeigt und in andere Ver-
hältnisse nach innen und außen tritt? Und so verhält es sich
mit der Sprache. Wenn man fragt, wie sie ist, so lautet die
richtige Antwort: sie ist, was sie wird; d. h. ihre Definition
liegt in ihrer Entwickelung.

1. Entstehung und Entwickelung der Sprache.

Es ist bei jeder Untersuchung von größter Wichtigkeit,
klar darüber zu sein, was man sucht. Ueber falsch gestellte,
unklar gedachte Fragen kann man Jahrhunderte streiten, ohne
daß man sich der Sache in Wahrheit nähert; man geht vor-
wärts, aber ins Blaue. Die richtige Stellung der Frage schließt
oft die Lösung gewissermaßen schon in sich, und ist in jedem
Falle der erste Schritt zu ihr, und wär’ es auch nur, daß sie
durch sich selbst lehrte: nur die Frage gebührt dem Menschen;
es gehört ihm nicht die Antwort.

Gehen wir also an die Untersuchung des Ursprungs der
Sprache nicht ohne vorher gesehen zu haben, welche Forderung
diese Frage in sich schließt, welche Bedeutung sie nur haben
kann.

§. 85. Stellung der Aufgabe.

Man macht einen Unterschied zwischen der Anfertigung
eines Dinges und der Erfindung desselben, und nur letztere
scheint das eigentlich Große und Bemerkenswerthe. Die erste
Räder-Uhr, die erste Dampfmaschine, die man construirt hat,
zieht die Neugier an, nicht die Hunderttausende, die man dar-
auf aller Orten gebaut hat, die wie die Schatten jener ersten
erscheinen. Erfinden ist das Schwere, Nachahmen und Lernen
geht von selbst. Wie die Erfindung gemacht worden ist, wie
die Sache angefangen hat, wie man auf den Einfall gekommen
ist, wie man den glücklichen Einfall verfolgt hat: das möchte
man wissen. Gerade so hat man — bis heute, kann man sa-
gen — von einer Erfindung der Sprache durch die Urmenschen
geredet. Erfindung will man es nun freilich nicht mehr nennen;

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[227/0265] Noch eine andere Betrachtung kann ebenfalls die Ungehö- rigkeit einer Definition der Sprache erweisen. Eine Definition kann, wie ein Gemälde, nur etwas Ruhendes oder nur einen Augenblick darstellen. Wie soll sie etwas bestimmen, das nicht bloß in sich mannigfaltig ist, sondern das sich auch durch meh- rere Stufen hindurch entwickelt und auf jeder Stufe ein verschie- denes, reicheres, gebildeteres Wesen zeigt und in andere Ver- hältnisse nach innen und außen tritt? Und so verhält es sich mit der Sprache. Wenn man fragt, wie sie ist, so lautet die richtige Antwort: sie ist, was sie wird; d. h. ihre Definition liegt in ihrer Entwickelung. 1. Entstehung und Entwickelung der Sprache. Es ist bei jeder Untersuchung von größter Wichtigkeit, klar darüber zu sein, was man sucht. Ueber falsch gestellte, unklar gedachte Fragen kann man Jahrhunderte streiten, ohne daß man sich der Sache in Wahrheit nähert; man geht vor- wärts, aber ins Blaue. Die richtige Stellung der Frage schließt oft die Lösung gewissermaßen schon in sich, und ist in jedem Falle der erste Schritt zu ihr, und wär’ es auch nur, daß sie durch sich selbst lehrte: nur die Frage gebührt dem Menschen; es gehört ihm nicht die Antwort. Gehen wir also an die Untersuchung des Ursprungs der Sprache nicht ohne vorher gesehen zu haben, welche Forderung diese Frage in sich schließt, welche Bedeutung sie nur haben kann. §. 85. Stellung der Aufgabe. Man macht einen Unterschied zwischen der Anfertigung eines Dinges und der Erfindung desselben, und nur letztere scheint das eigentlich Große und Bemerkenswerthe. Die erste Räder-Uhr, die erste Dampfmaschine, die man construirt hat, zieht die Neugier an, nicht die Hunderttausende, die man dar- auf aller Orten gebaut hat, die wie die Schatten jener ersten erscheinen. Erfinden ist das Schwere, Nachahmen und Lernen geht von selbst. Wie die Erfindung gemacht worden ist, wie die Sache angefangen hat, wie man auf den Einfall gekommen ist, wie man den glücklichen Einfall verfolgt hat: das möchte man wissen. Gerade so hat man — bis heute, kann man sa- gen — von einer Erfindung der Sprache durch die Urmenschen geredet. Erfindung will man es nun freilich nicht mehr nennen; 15*

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/265>, abgerufen am 25.04.2024.