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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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wie die Interjectionen. Er wird durch den N. facialis erzeugt,
und Müller bemerkt hierüber (II, S. 92.): "Der so äußerst
verschiedene Ausdruck der Gesichtszüge in den verschiedenen
Leidenschaften zeigt, daß je nach der Art der Seelenzustände
ganz verschiedene Gruppen der Fasern des N. facialis in Thä-
tigkeit oder Abspannung gesetzt werden. Die Gründe dieser
Erscheinung, dieser Beziehung der Gesichtsmuskeln zu beson-
dern Leidenschaften sind gänzlich unbekannt." Der N. facialis,
der physiognomische Nerv, ist "der sensibelste Leiter leiden-
schaftlicher Zustände" (ebenda), und wir sehen an ihm, wie ein
Nervenfaden vermöge der Spaltung seiner Fasern mannigfach
und verschiedenseitig wirken kann.

Der Nervus facialis ist nicht eigentlich ein Nerv für die
Sprachbewegung; aber er geht doch auch in die Muskeln, wel-
che die Kinnlade abziehen und das Zungenbein erheben; und
so, denke ich, muß er auch die Zunge irgendwie ein wenig erre-
gen, indem er dem Gesicht den Ausdruck giebt. Wird aber
die Zunge bewegt, so müssen doch dadurch auch wohl die Ner-
venfasern der Zunge, welche besonders die Sprachbewegungen
leiten, in Reizung versetzt werden. Also muß der N. facialis
mittelbar wohl auch zur Erzeugung der Töne wirken *). Gewiß
ist, daß "er bei allen verstärkten und angestrengten Athembe-
wegungen, besonders bei geschwächten Menschen, mitafficirt ist"
(das. I, 792.). Die eigentlichen Nerven der Sprachbewegungen
sind der N. vagus und N. hypoglossus; der erstere "verbreitet
sich constant in den Stimm- und Athemwerkzeugen", der andere
ist "der motorische Nerv der Zunge bei allen Bewegungen die-
ses Organs zum Sprechen, Kauen, Schlingen u. s. w. Er ist
aber auch der Bewegungsnerv der großen Muskeln des Kehl-
kopfes und Zungenbeins" (I, 795.); und hier, denke ich, muß er,
der eigentlich articulirende Nerv, mit dem so leicht reizbaren
physiognomischen N. facialis sich mittelbar begegnen. Wenn dies
richtig wäre, so hätten wir jetzt nicht bloß das Athmen und Tö-
nen, sondern auch die Articulation überhaupt, also die Elemente
der Sprache, als von innern Erregungen reflectirte Ausdrucks-

*) Von solcher Erregungsweise eines Nerven mittelst eines andern, näm-
lich daß ein Nerv durch den Muskel, in welchem er verläuft, gereizt wird,
weil dieser von einem andern Nerven, der ebenfalls auf ihn wirkt, zur Be-
wegung gebracht ist, habe ich zwar nichts gelesen; sollte sie aber unmög-
lich sein?

wie die Interjectionen. Er wird durch den N. facialis erzeugt,
und Müller bemerkt hierüber (II, S. 92.): „Der so äußerst
verschiedene Ausdruck der Gesichtszüge in den verschiedenen
Leidenschaften zeigt, daß je nach der Art der Seelenzustände
ganz verschiedene Gruppen der Fasern des N. facialis in Thä-
tigkeit oder Abspannung gesetzt werden. Die Gründe dieser
Erscheinung, dieser Beziehung der Gesichtsmuskeln zu beson-
dern Leidenschaften sind gänzlich unbekannt.“ Der N. facialis,
der physiognomische Nerv, ist „der sensibelste Leiter leiden-
schaftlicher Zustände“ (ebenda), und wir sehen an ihm, wie ein
Nervenfaden vermöge der Spaltung seiner Fasern mannigfach
und verschiedenseitig wirken kann.

Der Nervus facialis ist nicht eigentlich ein Nerv für die
Sprachbewegung; aber er geht doch auch in die Muskeln, wel-
che die Kinnlade abziehen und das Zungenbein erheben; und
so, denke ich, muß er auch die Zunge irgendwie ein wenig erre-
gen, indem er dem Gesicht den Ausdruck giebt. Wird aber
die Zunge bewegt, so müssen doch dadurch auch wohl die Ner-
venfasern der Zunge, welche besonders die Sprachbewegungen
leiten, in Reizung versetzt werden. Also muß der N. facialis
mittelbar wohl auch zur Erzeugung der Töne wirken *). Gewiß
ist, daß „er bei allen verstärkten und angestrengten Athembe-
wegungen, besonders bei geschwächten Menschen, mitafficirt ist“
(das. I, 792.). Die eigentlichen Nerven der Sprachbewegungen
sind der N. vagus und N. hypoglossus; der erstere „verbreitet
sich constant in den Stimm- und Athemwerkzeugen“, der andere
ist „der motorische Nerv der Zunge bei allen Bewegungen die-
ses Organs zum Sprechen, Kauen, Schlingen u. s. w. Er ist
aber auch der Bewegungsnerv der großen Muskeln des Kehl-
kopfes und Zungenbeins“ (I, 795.); und hier, denke ich, muß er,
der eigentlich articulirende Nerv, mit dem so leicht reizbaren
physiognomischen N. facialis sich mittelbar begegnen. Wenn dies
richtig wäre, so hätten wir jetzt nicht bloß das Athmen und Tö-
nen, sondern auch die Articulation überhaupt, also die Elemente
der Sprache, als von innern Erregungen reflectirte Ausdrucks-

*) Von solcher Erregungsweise eines Nerven mittelst eines andern, näm-
lich daß ein Nerv durch den Muskel, in welchem er verläuft, gereizt wird,
weil dieser von einem andern Nerven, der ebenfalls auf ihn wirkt, zur Be-
wegung gebracht ist, habe ich zwar nichts gelesen; sollte sie aber unmög-
lich sein?
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[258/0296] wie die Interjectionen. Er wird durch den N. facialis erzeugt, und Müller bemerkt hierüber (II, S. 92.): „Der so äußerst verschiedene Ausdruck der Gesichtszüge in den verschiedenen Leidenschaften zeigt, daß je nach der Art der Seelenzustände ganz verschiedene Gruppen der Fasern des N. facialis in Thä- tigkeit oder Abspannung gesetzt werden. Die Gründe dieser Erscheinung, dieser Beziehung der Gesichtsmuskeln zu beson- dern Leidenschaften sind gänzlich unbekannt.“ Der N. facialis, der physiognomische Nerv, ist „der sensibelste Leiter leiden- schaftlicher Zustände“ (ebenda), und wir sehen an ihm, wie ein Nervenfaden vermöge der Spaltung seiner Fasern mannigfach und verschiedenseitig wirken kann. Der Nervus facialis ist nicht eigentlich ein Nerv für die Sprachbewegung; aber er geht doch auch in die Muskeln, wel- che die Kinnlade abziehen und das Zungenbein erheben; und so, denke ich, muß er auch die Zunge irgendwie ein wenig erre- gen, indem er dem Gesicht den Ausdruck giebt. Wird aber die Zunge bewegt, so müssen doch dadurch auch wohl die Ner- venfasern der Zunge, welche besonders die Sprachbewegungen leiten, in Reizung versetzt werden. Also muß der N. facialis mittelbar wohl auch zur Erzeugung der Töne wirken *). Gewiß ist, daß „er bei allen verstärkten und angestrengten Athembe- wegungen, besonders bei geschwächten Menschen, mitafficirt ist“ (das. I, 792.). Die eigentlichen Nerven der Sprachbewegungen sind der N. vagus und N. hypoglossus; der erstere „verbreitet sich constant in den Stimm- und Athemwerkzeugen“, der andere ist „der motorische Nerv der Zunge bei allen Bewegungen die- ses Organs zum Sprechen, Kauen, Schlingen u. s. w. Er ist aber auch der Bewegungsnerv der großen Muskeln des Kehl- kopfes und Zungenbeins“ (I, 795.); und hier, denke ich, muß er, der eigentlich articulirende Nerv, mit dem so leicht reizbaren physiognomischen N. facialis sich mittelbar begegnen. Wenn dies richtig wäre, so hätten wir jetzt nicht bloß das Athmen und Tö- nen, sondern auch die Articulation überhaupt, also die Elemente der Sprache, als von innern Erregungen reflectirte Ausdrucks- *) Von solcher Erregungsweise eines Nerven mittelst eines andern, näm- lich daß ein Nerv durch den Muskel, in welchem er verläuft, gereizt wird, weil dieser von einem andern Nerven, der ebenfalls auf ihn wirkt, zur Be- wegung gebracht ist, habe ich zwar nichts gelesen; sollte sie aber unmög- lich sein?

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/296>, abgerufen am 28.03.2024.