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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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und Begriffe. Der innerlich oder äußerlich angeschaute Hund
ist eine bestimmte Einzelheit, bestimmt nach Farbe, Größe, Ge-
stalt, Stimme und allem was die Anschauung an ihm besitzt.
Das Thier, ein so umfassender Gattungsbegriff, wird gar nicht
angeschaut. Es mag wohl sein, daß das Kind mit seinen noch
so ungeübten Sinnen gerade von den Merkmalen eines Hundes,
welche er mit der Katze und dem Pferde als Thier gemeinsam
hat, am meisten betroffen wird, daß es bloß diese wahrnimmt
und über ihnen die andern übersieht. Der Hund, wie die Katze
ist für das Kind etwa ein Ding, das von selbst von einem Orte
zum andern gelangt, ohne, wie Tische, Stühle, getragen zu wer-
den; ein Ding, dem man ruft, dem man zu essen giebt u. s. w.
Wenn es aber auch an dem Hunde nichts weiter wahrnähme,
als die allgemeinen thierischen Merkmale, so wäre dies doch
keine Anschauung von einem Thiere, sondern nur eine unvoll-
kommene, d. h. sowohl unvollständige, als stumpfe, an Menge der
Merkmale und Schärfe der Auffassung mangelhafte Anschauung
von einem Hunde.

Wesentliche Bestimmungen der sinnlichen Anschauung sind
also: Mangel an Selbstbewußtsein, einzelne Wirklichkeit und
Einheit. Diese letzte ist noch besonders scharf zu nehmen. Die
Anschauung ist Einheit vieler Empfindungserkenntnisse, nicht
Vereinigung; bewußtlos gewordener Zustand des Zusammenseins
der Qualitäten, nicht bewußtvolle Thätigkeit des Zusammenfas-
sens. Die Seele weiß also nichts von der Mannigfaltigkeit, wel-
che in der Anschauung liegt. Sie hatte zuerst tausend Quali-
täten empfunden, die alle zur Einheit verschmolzen waren und
eine große, unklare Anschauung bildeten. Die Qualitäten rissen
aus einander, und so gelangte das anschauende Bewußtsein zu
eben so vielen Anschauungen, als die erste Anschauung in Theile
zerriß. Diese Theilanschauungen geben eine klarere Erkenntniß,
als die erste; aber sie tragen in Beziehung auf ihre Elemente
denselben Charakter der Unklarheit und Ungesondertheit, den
die erste in Bezug auf sie trug. Der Fortschritt der Seele wird
also nun darin liegen, daß auch die einzelnen Anschauungen
sich in ihre einzelnen Qualitäten auflösen. Wie dies geschehen
könne, zu untersuchen, ist unsere Aufgabe. Denn man begreift
oder ahnt sogleich, daß dies nicht wieder durch Zerreißung der
Wirklichkeit geschehen werde; denn diese führt niemals zu ab-
stracten Qualitäten, d. h. zu Qualitäten, welche nicht in einem

und Begriffe. Der innerlich oder äußerlich angeschaute Hund
ist eine bestimmte Einzelheit, bestimmt nach Farbe, Größe, Ge-
stalt, Stimme und allem was die Anschauung an ihm besitzt.
Das Thier, ein so umfassender Gattungsbegriff, wird gar nicht
angeschaut. Es mag wohl sein, daß das Kind mit seinen noch
so ungeübten Sinnen gerade von den Merkmalen eines Hundes,
welche er mit der Katze und dem Pferde als Thier gemeinsam
hat, am meisten betroffen wird, daß es bloß diese wahrnimmt
und über ihnen die andern übersieht. Der Hund, wie die Katze
ist für das Kind etwa ein Ding, das von selbst von einem Orte
zum andern gelangt, ohne, wie Tische, Stühle, getragen zu wer-
den; ein Ding, dem man ruft, dem man zu essen giebt u. s. w.
Wenn es aber auch an dem Hunde nichts weiter wahrnähme,
als die allgemeinen thierischen Merkmale, so wäre dies doch
keine Anschauung von einem Thiere, sondern nur eine unvoll-
kommene, d. h. sowohl unvollständige, als stumpfe, an Menge der
Merkmale und Schärfe der Auffassung mangelhafte Anschauung
von einem Hunde.

Wesentliche Bestimmungen der sinnlichen Anschauung sind
also: Mangel an Selbstbewußtsein, einzelne Wirklichkeit und
Einheit. Diese letzte ist noch besonders scharf zu nehmen. Die
Anschauung ist Einheit vieler Empfindungserkenntnisse, nicht
Vereinigung; bewußtlos gewordener Zustand des Zusammenseins
der Qualitäten, nicht bewußtvolle Thätigkeit des Zusammenfas-
sens. Die Seele weiß also nichts von der Mannigfaltigkeit, wel-
che in der Anschauung liegt. Sie hatte zuerst tausend Quali-
täten empfunden, die alle zur Einheit verschmolzen waren und
eine große, unklare Anschauung bildeten. Die Qualitäten rissen
aus einander, und so gelangte das anschauende Bewußtsein zu
eben so vielen Anschauungen, als die erste Anschauung in Theile
zerriß. Diese Theilanschauungen geben eine klarere Erkenntniß,
als die erste; aber sie tragen in Beziehung auf ihre Elemente
denselben Charakter der Unklarheit und Ungesondertheit, den
die erste in Bezug auf sie trug. Der Fortschritt der Seele wird
also nun darin liegen, daß auch die einzelnen Anschauungen
sich in ihre einzelnen Qualitäten auflösen. Wie dies geschehen
könne, zu untersuchen, ist unsere Aufgabe. Denn man begreift
oder ahnt sogleich, daß dies nicht wieder durch Zerreißung der
Wirklichkeit geschehen werde; denn diese führt niemals zu ab-
stracten Qualitäten, d. h. zu Qualitäten, welche nicht in einem

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[263/0301] und Begriffe. Der innerlich oder äußerlich angeschaute Hund ist eine bestimmte Einzelheit, bestimmt nach Farbe, Größe, Ge- stalt, Stimme und allem was die Anschauung an ihm besitzt. Das Thier, ein so umfassender Gattungsbegriff, wird gar nicht angeschaut. Es mag wohl sein, daß das Kind mit seinen noch so ungeübten Sinnen gerade von den Merkmalen eines Hundes, welche er mit der Katze und dem Pferde als Thier gemeinsam hat, am meisten betroffen wird, daß es bloß diese wahrnimmt und über ihnen die andern übersieht. Der Hund, wie die Katze ist für das Kind etwa ein Ding, das von selbst von einem Orte zum andern gelangt, ohne, wie Tische, Stühle, getragen zu wer- den; ein Ding, dem man ruft, dem man zu essen giebt u. s. w. Wenn es aber auch an dem Hunde nichts weiter wahrnähme, als die allgemeinen thierischen Merkmale, so wäre dies doch keine Anschauung von einem Thiere, sondern nur eine unvoll- kommene, d. h. sowohl unvollständige, als stumpfe, an Menge der Merkmale und Schärfe der Auffassung mangelhafte Anschauung von einem Hunde. Wesentliche Bestimmungen der sinnlichen Anschauung sind also: Mangel an Selbstbewußtsein, einzelne Wirklichkeit und Einheit. Diese letzte ist noch besonders scharf zu nehmen. Die Anschauung ist Einheit vieler Empfindungserkenntnisse, nicht Vereinigung; bewußtlos gewordener Zustand des Zusammenseins der Qualitäten, nicht bewußtvolle Thätigkeit des Zusammenfas- sens. Die Seele weiß also nichts von der Mannigfaltigkeit, wel- che in der Anschauung liegt. Sie hatte zuerst tausend Quali- täten empfunden, die alle zur Einheit verschmolzen waren und eine große, unklare Anschauung bildeten. Die Qualitäten rissen aus einander, und so gelangte das anschauende Bewußtsein zu eben so vielen Anschauungen, als die erste Anschauung in Theile zerriß. Diese Theilanschauungen geben eine klarere Erkenntniß, als die erste; aber sie tragen in Beziehung auf ihre Elemente denselben Charakter der Unklarheit und Ungesondertheit, den die erste in Bezug auf sie trug. Der Fortschritt der Seele wird also nun darin liegen, daß auch die einzelnen Anschauungen sich in ihre einzelnen Qualitäten auflösen. Wie dies geschehen könne, zu untersuchen, ist unsere Aufgabe. Denn man begreift oder ahnt sogleich, daß dies nicht wieder durch Zerreißung der Wirklichkeit geschehen werde; denn diese führt niemals zu ab- stracten Qualitäten, d. h. zu Qualitäten, welche nicht in einem

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/301>, abgerufen am 19.04.2024.