Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

sucht, man hätte sich andererseits durch das Streben des Wi-
derspruchs niemals können verleiten lassen, in der Gleichstellung
von Mensch und Thier so weit zu gehen, um jeden wesentlichen,
principiellen Unterschied zu läugnen. Beiderseits hat man aber
denselben Fehler gemacht. Erstererseits behauptete man, der
Unterschied liege in den sogenannten höhern Seelenfähigkeiten,
welche der Mensch als Ueberschuß zu und neben den untern
im Vorzuge vor dem Thiere besitze, welches bloß die untern
Seelenfähigkeiten habe. Hiergegen bemerkte nun andererseits
Herbart -- denn ich rede hier nicht von Franzosen und fran-
zösirenden Deutschen; einem Manne wie Herbart aber merkt
man es an, daß nur sein Widerstand gegen eine Ansicht, die
alle Zweige der Philosophie verdorben hatte, ihn dazu führen
konnte, den Unterschied zwischen Mensch und Thier zu über-
sehen -- Herbart also, sage ich, bemerkt gegen obige Ansicht
mit Recht, daß das, was man unter den höhern Seelenfähigkei-
ten versteht, gar nicht dem Menschen angeborne besondere Kräfte
sind, sondern ein im Laufe der Zeitalter vom Menschengeschlechte
erworbenes, durch Ueberlieferung von einem Geschlechte zum
andern fortgepflanztes und immer neu bereichertes Gut der Cul-
tur ist. Dieser Erwerb muß abgezogen werden, wenn die Seele
des Menschen mit der des Thieres verglichen werden soll; denn
er ist nicht einer höhern Kraft der Seele zu verdanken, son-
dern dem höher gebildeten menschlichen Leibe, nämlich seiner
kunstfähigen Hand und seinen gefügigen Sprachorganen. Ab-
gesehen von diesem leiblichen Vorzuge, sei die menschliche
Seele, wie die thierische; diese würde gleiche Cultur erreichen,
hätte ihr die Vorsehung Hände und Sprache gegeben. Denn
übrigens sei beim Thiere alles, wie beim Menschen, und man
könne beobachten, wie die Thierseele nach Hand und Sprache
gewissermaßen strebe, d. h. Pfote und Stimme als Hand und
Sprache zu verwenden strebe, dabei aber vom Leibe im Stiche
gelassen werde.

Beide Ansichten also sehen den Unterschied zwischen Mensch
und Thier nur in der weitern Bildung. Und dies halten wir
für falsch. Der Unterschied zeigt sich überall, schon beim er-
sten Beginn der Seelenwirksamkeit, schon im ersten Auftreten
derselben. Wenn die Sprache von jeher für das galt, was die-
sen Unterschied ausmache und begründe: so kommt es auch
wohl der Sprachwissenschaft zu, ihn festzustellen, sorgfältig dar-

sucht, man hätte sich andererseits durch das Streben des Wi-
derspruchs niemals können verleiten lassen, in der Gleichstellung
von Mensch und Thier so weit zu gehen, um jeden wesentlichen,
principiellen Unterschied zu läugnen. Beiderseits hat man aber
denselben Fehler gemacht. Erstererseits behauptete man, der
Unterschied liege in den sogenannten höhern Seelenfähigkeiten,
welche der Mensch als Ueberschuß zu und neben den untern
im Vorzuge vor dem Thiere besitze, welches bloß die untern
Seelenfähigkeiten habe. Hiergegen bemerkte nun andererseits
Herbart — denn ich rede hier nicht von Franzosen und fran-
zösirenden Deutschen; einem Manne wie Herbart aber merkt
man es an, daß nur sein Widerstand gegen eine Ansicht, die
alle Zweige der Philosophie verdorben hatte, ihn dazu führen
konnte, den Unterschied zwischen Mensch und Thier zu über-
sehen — Herbart also, sage ich, bemerkt gegen obige Ansicht
mit Recht, daß das, was man unter den höhern Seelenfähigkei-
ten versteht, gar nicht dem Menschen angeborne besondere Kräfte
sind, sondern ein im Laufe der Zeitalter vom Menschengeschlechte
erworbenes, durch Ueberlieferung von einem Geschlechte zum
andern fortgepflanztes und immer neu bereichertes Gut der Cul-
tur ist. Dieser Erwerb muß abgezogen werden, wenn die Seele
des Menschen mit der des Thieres verglichen werden soll; denn
er ist nicht einer höhern Kraft der Seele zu verdanken, son-
dern dem höher gebildeten menschlichen Leibe, nämlich seiner
kunstfähigen Hand und seinen gefügigen Sprachorganen. Ab-
gesehen von diesem leiblichen Vorzuge, sei die menschliche
Seele, wie die thierische; diese würde gleiche Cultur erreichen,
hätte ihr die Vorsehung Hände und Sprache gegeben. Denn
übrigens sei beim Thiere alles, wie beim Menschen, und man
könne beobachten, wie die Thierseele nach Hand und Sprache
gewissermaßen strebe, d. h. Pfote und Stimme als Hand und
Sprache zu verwenden strebe, dabei aber vom Leibe im Stiche
gelassen werde.

Beide Ansichten also sehen den Unterschied zwischen Mensch
und Thier nur in der weitern Bildung. Und dies halten wir
für falsch. Der Unterschied zeigt sich überall, schon beim er-
sten Beginn der Seelenwirksamkeit, schon im ersten Auftreten
derselben. Wenn die Sprache von jeher für das galt, was die-
sen Unterschied ausmache und begründe: so kommt es auch
wohl der Sprachwissenschaft zu, ihn festzustellen, sorgfältig dar-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0310" n="272"/>
sucht, man hätte sich andererseits durch das Streben des Wi-<lb/>
derspruchs niemals können verleiten lassen, in der Gleichstellung<lb/>
von Mensch und Thier so weit zu gehen, um jeden wesentlichen,<lb/>
principiellen Unterschied zu läugnen. Beiderseits hat man aber<lb/>
denselben Fehler gemacht. Erstererseits behauptete man, der<lb/>
Unterschied liege in den sogenannten höhern Seelenfähigkeiten,<lb/>
welche der Mensch als Ueberschuß zu und neben den untern<lb/>
im Vorzuge vor dem Thiere besitze, welches bloß die untern<lb/>
Seelenfähigkeiten habe. Hiergegen bemerkte nun andererseits<lb/>
Herbart &#x2014; denn ich rede hier nicht von Franzosen und fran-<lb/>
zösirenden Deutschen; einem Manne wie Herbart aber merkt<lb/>
man es an, daß nur sein Widerstand gegen eine Ansicht, die<lb/>
alle Zweige der Philosophie verdorben hatte, ihn dazu führen<lb/>
konnte, den Unterschied zwischen Mensch und Thier zu über-<lb/>
sehen &#x2014; Herbart also, sage ich, bemerkt gegen obige Ansicht<lb/>
mit Recht, daß das, was man unter den höhern Seelenfähigkei-<lb/>
ten versteht, gar nicht dem Menschen angeborne besondere Kräfte<lb/>
sind, sondern ein im Laufe der Zeitalter vom Menschengeschlechte<lb/>
erworbenes, durch Ueberlieferung von einem Geschlechte zum<lb/>
andern fortgepflanztes und immer neu bereichertes Gut der Cul-<lb/>
tur ist. Dieser Erwerb muß abgezogen werden, wenn die Seele<lb/>
des Menschen mit der des Thieres verglichen werden soll; denn<lb/>
er ist nicht einer höhern Kraft der Seele zu verdanken, son-<lb/>
dern dem höher gebildeten menschlichen Leibe, nämlich seiner<lb/>
kunstfähigen Hand und seinen gefügigen Sprachorganen. Ab-<lb/>
gesehen von diesem leiblichen Vorzuge, sei die menschliche<lb/>
Seele, wie die thierische; diese würde gleiche Cultur erreichen,<lb/>
hätte ihr die Vorsehung Hände und Sprache gegeben. Denn<lb/>
übrigens sei beim Thiere alles, wie beim Menschen, und man<lb/>
könne beobachten, wie die Thierseele nach Hand und Sprache<lb/>
gewissermaßen strebe, d. h. Pfote und Stimme als Hand und<lb/>
Sprache zu verwenden strebe, dabei aber vom Leibe im Stiche<lb/>
gelassen werde.</p><lb/>
                <p>Beide Ansichten also sehen den Unterschied zwischen Mensch<lb/>
und Thier nur in der weitern Bildung. Und dies halten wir<lb/>
für falsch. Der Unterschied zeigt sich überall, schon beim er-<lb/>
sten Beginn der Seelenwirksamkeit, schon im ersten Auftreten<lb/>
derselben. Wenn die Sprache von jeher für das galt, was die-<lb/>
sen Unterschied ausmache und begründe: so kommt es auch<lb/>
wohl der Sprachwissenschaft zu, ihn festzustellen, sorgfältig dar-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272/0310] sucht, man hätte sich andererseits durch das Streben des Wi- derspruchs niemals können verleiten lassen, in der Gleichstellung von Mensch und Thier so weit zu gehen, um jeden wesentlichen, principiellen Unterschied zu läugnen. Beiderseits hat man aber denselben Fehler gemacht. Erstererseits behauptete man, der Unterschied liege in den sogenannten höhern Seelenfähigkeiten, welche der Mensch als Ueberschuß zu und neben den untern im Vorzuge vor dem Thiere besitze, welches bloß die untern Seelenfähigkeiten habe. Hiergegen bemerkte nun andererseits Herbart — denn ich rede hier nicht von Franzosen und fran- zösirenden Deutschen; einem Manne wie Herbart aber merkt man es an, daß nur sein Widerstand gegen eine Ansicht, die alle Zweige der Philosophie verdorben hatte, ihn dazu führen konnte, den Unterschied zwischen Mensch und Thier zu über- sehen — Herbart also, sage ich, bemerkt gegen obige Ansicht mit Recht, daß das, was man unter den höhern Seelenfähigkei- ten versteht, gar nicht dem Menschen angeborne besondere Kräfte sind, sondern ein im Laufe der Zeitalter vom Menschengeschlechte erworbenes, durch Ueberlieferung von einem Geschlechte zum andern fortgepflanztes und immer neu bereichertes Gut der Cul- tur ist. Dieser Erwerb muß abgezogen werden, wenn die Seele des Menschen mit der des Thieres verglichen werden soll; denn er ist nicht einer höhern Kraft der Seele zu verdanken, son- dern dem höher gebildeten menschlichen Leibe, nämlich seiner kunstfähigen Hand und seinen gefügigen Sprachorganen. Ab- gesehen von diesem leiblichen Vorzuge, sei die menschliche Seele, wie die thierische; diese würde gleiche Cultur erreichen, hätte ihr die Vorsehung Hände und Sprache gegeben. Denn übrigens sei beim Thiere alles, wie beim Menschen, und man könne beobachten, wie die Thierseele nach Hand und Sprache gewissermaßen strebe, d. h. Pfote und Stimme als Hand und Sprache zu verwenden strebe, dabei aber vom Leibe im Stiche gelassen werde. Beide Ansichten also sehen den Unterschied zwischen Mensch und Thier nur in der weitern Bildung. Und dies halten wir für falsch. Der Unterschied zeigt sich überall, schon beim er- sten Beginn der Seelenwirksamkeit, schon im ersten Auftreten derselben. Wenn die Sprache von jeher für das galt, was die- sen Unterschied ausmache und begründe: so kommt es auch wohl der Sprachwissenschaft zu, ihn festzustellen, sorgfältig dar-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/310
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/310>, abgerufen am 23.04.2024.