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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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sen Eindruck richtet sie jetzt ihre Aufmerksamkeit, ihre Thä-
tigkeit.

Hierzu kommt noch etwas. Es liegt folgende Einwendung
sehr nahe. Die menschliche Seele wird wahrscheinlich nicht
nach der ersten Anschauung, die sie hatte, nach dargelegter
Weise in sich gehen; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil
nach Ablauf der ersten Anschauung und ihrer leiblichen Refle-
xion eine zweite auftritt, und dann wieder eine andere Sinnes-
empfindung die Seele einnehmen wird u. s. f.; so daß die Seele
in ewiger Zerstreuung, von einer Anschauung zur andern über-
gehend, nie Kraft und Zeit gewinnt, in sich zu gehen und auf
sich selbst aufzumerken. Was also nach der ersten Anschauung
nicht geschieht, wird auch nach der hundertsten nicht gesche-
hen; denn an diese schließt sich die folgende, wie an jene, und
läßt die Seele nicht zu sich selbst kommen.

Die Sache ist indeß nicht so. Wir haben oben schon be-
merkt, daß zwar das Nothwendige immer in gleicher Weise
geschieht; daß aber Lust und Annehmlichkeit, also Interesse
und Empfänglichkeit nach jeder Befriedigung abnimmt. Der
Mensch schaut nicht nur an, sondern er freut sich zugleich sei-
ner Anschauung. Das Thier starrt an, der Mensch schaut mit
Interesse und Wohlgefallen. Durch Wiederholung derselben An-
schauungen aber sinkt die Empfänglichkeit, man wird gleichgül-
tig dagegen. Das Nothwendige bleibt dasselbe. Ein gesundes
Auge sieht denselben Gegenstand zum hundertsten Male eben
so, wie zum ersten. Das Nothwendige ist aber bloß das Leib-
liche. In der Seele aber hat sich das Verhältniß verändert.
Der zum hundertsten Male wiederholten Anschauung setzt sie
den im Gedächtnisse haftenden Eindruck von neun-und-neunzig-
maligem Anschauen entgegen. Die Seelenkraft, die jetzt der
gegenwärtigen Anschauung entgegentritt, ist also ungleich mäch-
tiger, als der äußere Eindruck. Und so dient die neue An-
schauung bloß dazu, um die Gesammtmasse der mit einander
verschmolzenen, im Gedächtnisse ruhenden wiederholten gleichen
Anschauungen, wie einen verborgenen Schatz aus der Tiefe der
Seele an das Licht zu heben und vor ihr Auge zu stellen. Sie
sieht also im Aeußern nicht mehr bloß das Aeußere, sondern
zugleich ihr Inneres; oder vielmehr ihr Blick gleitet schnell vom
Aeußern ab und richtet sich auf ihren eigenen Besitz; d. h. sie
wird sich ihrer selbst bewußt.

sen Eindruck richtet sie jetzt ihre Aufmerksamkeit, ihre Thä-
tigkeit.

Hierzu kommt noch etwas. Es liegt folgende Einwendung
sehr nahe. Die menschliche Seele wird wahrscheinlich nicht
nach der ersten Anschauung, die sie hatte, nach dargelegter
Weise in sich gehen; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil
nach Ablauf der ersten Anschauung und ihrer leiblichen Refle-
xion eine zweite auftritt, und dann wieder eine andere Sinnes-
empfindung die Seele einnehmen wird u. s. f.; so daß die Seele
in ewiger Zerstreuung, von einer Anschauung zur andern über-
gehend, nie Kraft und Zeit gewinnt, in sich zu gehen und auf
sich selbst aufzumerken. Was also nach der ersten Anschauung
nicht geschieht, wird auch nach der hundertsten nicht gesche-
hen; denn an diese schließt sich die folgende, wie an jene, und
läßt die Seele nicht zu sich selbst kommen.

Die Sache ist indeß nicht so. Wir haben oben schon be-
merkt, daß zwar das Nothwendige immer in gleicher Weise
geschieht; daß aber Lust und Annehmlichkeit, also Interesse
und Empfänglichkeit nach jeder Befriedigung abnimmt. Der
Mensch schaut nicht nur an, sondern er freut sich zugleich sei-
ner Anschauung. Das Thier starrt an, der Mensch schaut mit
Interesse und Wohlgefallen. Durch Wiederholung derselben An-
schauungen aber sinkt die Empfänglichkeit, man wird gleichgül-
tig dagegen. Das Nothwendige bleibt dasselbe. Ein gesundes
Auge sieht denselben Gegenstand zum hundertsten Male eben
so, wie zum ersten. Das Nothwendige ist aber bloß das Leib-
liche. In der Seele aber hat sich das Verhältniß verändert.
Der zum hundertsten Male wiederholten Anschauung setzt sie
den im Gedächtnisse haftenden Eindruck von neun-und-neunzig-
maligem Anschauen entgegen. Die Seelenkraft, die jetzt der
gegenwärtigen Anschauung entgegentritt, ist also ungleich mäch-
tiger, als der äußere Eindruck. Und so dient die neue An-
schauung bloß dazu, um die Gesammtmasse der mit einander
verschmolzenen, im Gedächtnisse ruhenden wiederholten gleichen
Anschauungen, wie einen verborgenen Schatz aus der Tiefe der
Seele an das Licht zu heben und vor ihr Auge zu stellen. Sie
sieht also im Aeußern nicht mehr bloß das Aeußere, sondern
zugleich ihr Inneres; oder vielmehr ihr Blick gleitet schnell vom
Aeußern ab und richtet sich auf ihren eigenen Besitz; d. h. sie
wird sich ihrer selbst bewußt.

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[297/0335] sen Eindruck richtet sie jetzt ihre Aufmerksamkeit, ihre Thä- tigkeit. Hierzu kommt noch etwas. Es liegt folgende Einwendung sehr nahe. Die menschliche Seele wird wahrscheinlich nicht nach der ersten Anschauung, die sie hatte, nach dargelegter Weise in sich gehen; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil nach Ablauf der ersten Anschauung und ihrer leiblichen Refle- xion eine zweite auftritt, und dann wieder eine andere Sinnes- empfindung die Seele einnehmen wird u. s. f.; so daß die Seele in ewiger Zerstreuung, von einer Anschauung zur andern über- gehend, nie Kraft und Zeit gewinnt, in sich zu gehen und auf sich selbst aufzumerken. Was also nach der ersten Anschauung nicht geschieht, wird auch nach der hundertsten nicht gesche- hen; denn an diese schließt sich die folgende, wie an jene, und läßt die Seele nicht zu sich selbst kommen. Die Sache ist indeß nicht so. Wir haben oben schon be- merkt, daß zwar das Nothwendige immer in gleicher Weise geschieht; daß aber Lust und Annehmlichkeit, also Interesse und Empfänglichkeit nach jeder Befriedigung abnimmt. Der Mensch schaut nicht nur an, sondern er freut sich zugleich sei- ner Anschauung. Das Thier starrt an, der Mensch schaut mit Interesse und Wohlgefallen. Durch Wiederholung derselben An- schauungen aber sinkt die Empfänglichkeit, man wird gleichgül- tig dagegen. Das Nothwendige bleibt dasselbe. Ein gesundes Auge sieht denselben Gegenstand zum hundertsten Male eben so, wie zum ersten. Das Nothwendige ist aber bloß das Leib- liche. In der Seele aber hat sich das Verhältniß verändert. Der zum hundertsten Male wiederholten Anschauung setzt sie den im Gedächtnisse haftenden Eindruck von neun-und-neunzig- maligem Anschauen entgegen. Die Seelenkraft, die jetzt der gegenwärtigen Anschauung entgegentritt, ist also ungleich mäch- tiger, als der äußere Eindruck. Und so dient die neue An- schauung bloß dazu, um die Gesammtmasse der mit einander verschmolzenen, im Gedächtnisse ruhenden wiederholten gleichen Anschauungen, wie einen verborgenen Schatz aus der Tiefe der Seele an das Licht zu heben und vor ihr Auge zu stellen. Sie sieht also im Aeußern nicht mehr bloß das Aeußere, sondern zugleich ihr Inneres; oder vielmehr ihr Blick gleitet schnell vom Aeußern ab und richtet sich auf ihren eigenen Besitz; d. h. sie wird sich ihrer selbst bewußt.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/335>, abgerufen am 25.04.2024.