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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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dens, der Veränderung liegen und hier nur nach den besondern
Umständen eine besondere Gestalt annehmen. In der Sprach-
schöpfung ist nicht mehr die anschauende Seele, und doch noch
nicht der denkende Geist, auch nichts Mittleres; sondern sie ist
der Uebergang von jener in diesen, also beides und keins von
beiden. Dies ist der Widerspruch, der in jeder Grenze liegt;
denn sie gehört den beiden begrenzten Dingen und ist keins
von beiden.

Die Sprache kann angesehen werden als das Erwachen des
Geistes aus seinem Schlafe im Zustande der Seele. Hier haben
wir denselben Widerspruch. Erwachen ist noch nicht Wachen
und doch nicht mehr Schlafen.

Diese Widersprüche können wir hier ruhig bei Seite las-
sen; sie gehören in die Metaphysik, der sie von den Special-
Wissenschaften übergeben worden. Ein anderer Widerspruch
aber geht uns näher an. Das Erwachen ist ein Selbstwecken;
aber wie kann das schlafende Wesen sich selbst wecken? muß
man nicht wach sein, um wecken zu können? Die menschliche
Seele kann nur erwachen, insofern sie Geist ist; das weckende
Princip in ihr ist der Geist. Bevor aber die Seele wacht, ist
der Geist noch nicht; wie kann er also wecken? Erst mit dem
Erwachen wird die Seele zum Selbst, und doch ist dieses Selbst
das Weckende; also wäre das vor dem Erwachen schon da,
was erst durch das Erwachen entstehen soll. Und warum er-
wacht nicht auch die thierische Seele zum Geiste?

Um dies zu erklären, bleiben wir bei der Analogie des leibli-
chen Schlafes stehen. Man erwacht nicht mit einem andern see-
lischen oder geistigen Wesen, als mit dem man sich niedergelegt
hat; sondern man ist schlafend und wachend ganz derselbe. Der
Unterschied aber beruht darauf, daß im Schlafe ein Druck des
ermüdeten Leibes auf dem Bewußtsein lastet; und eben so überall,
wo Bewußtlosigkeit eintritt. Wie das Einschlafen durch die
immer wachsende Kraft des Druckes geschieht, so kommt um-
gekehrt das Erwachen dadurch zu Stande, daß der sich erho-
lende Körper mit seinem Drucke in gleichem Verhältnisse nach-
läßt, als er an Spannkraft gewinnt; und endlich wird die Ner-
venerregung durch die angesammelte Kraft von selbst so groß,
daß der Druck völlig schwindet, und die Thätigkeit des Leibes
und der Seele neu beginnt. Anders kann es auch in unserm
Falle nicht sein. Wir müssen schon im Urmenschen und im

dens, der Veränderung liegen und hier nur nach den besondern
Umständen eine besondere Gestalt annehmen. In der Sprach-
schöpfung ist nicht mehr die anschauende Seele, und doch noch
nicht der denkende Geist, auch nichts Mittleres; sondern sie ist
der Uebergang von jener in diesen, also beides und keins von
beiden. Dies ist der Widerspruch, der in jeder Grenze liegt;
denn sie gehört den beiden begrenzten Dingen und ist keins
von beiden.

Die Sprache kann angesehen werden als das Erwachen des
Geistes aus seinem Schlafe im Zustande der Seele. Hier haben
wir denselben Widerspruch. Erwachen ist noch nicht Wachen
und doch nicht mehr Schlafen.

Diese Widersprüche können wir hier ruhig bei Seite las-
sen; sie gehören in die Metaphysik, der sie von den Special-
Wissenschaften übergeben worden. Ein anderer Widerspruch
aber geht uns näher an. Das Erwachen ist ein Selbstwecken;
aber wie kann das schlafende Wesen sich selbst wecken? muß
man nicht wach sein, um wecken zu können? Die menschliche
Seele kann nur erwachen, insofern sie Geist ist; das weckende
Princip in ihr ist der Geist. Bevor aber die Seele wacht, ist
der Geist noch nicht; wie kann er also wecken? Erst mit dem
Erwachen wird die Seele zum Selbst, und doch ist dieses Selbst
das Weckende; also wäre das vor dem Erwachen schon da,
was erst durch das Erwachen entstehen soll. Und warum er-
wacht nicht auch die thierische Seele zum Geiste?

Um dies zu erklären, bleiben wir bei der Analogie des leibli-
chen Schlafes stehen. Man erwacht nicht mit einem andern see-
lischen oder geistigen Wesen, als mit dem man sich niedergelegt
hat; sondern man ist schlafend und wachend ganz derselbe. Der
Unterschied aber beruht darauf, daß im Schlafe ein Druck des
ermüdeten Leibes auf dem Bewußtsein lastet; und eben so überall,
wo Bewußtlosigkeit eintritt. Wie das Einschlafen durch die
immer wachsende Kraft des Druckes geschieht, so kommt um-
gekehrt das Erwachen dadurch zu Stande, daß der sich erho-
lende Körper mit seinem Drucke in gleichem Verhältnisse nach-
läßt, als er an Spannkraft gewinnt; und endlich wird die Ner-
venerregung durch die angesammelte Kraft von selbst so groß,
daß der Druck völlig schwindet, und die Thätigkeit des Leibes
und der Seele neu beginnt. Anders kann es auch in unserm
Falle nicht sein. Wir müssen schon im Urmenschen und im

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[301/0339] dens, der Veränderung liegen und hier nur nach den besondern Umständen eine besondere Gestalt annehmen. In der Sprach- schöpfung ist nicht mehr die anschauende Seele, und doch noch nicht der denkende Geist, auch nichts Mittleres; sondern sie ist der Uebergang von jener in diesen, also beides und keins von beiden. Dies ist der Widerspruch, der in jeder Grenze liegt; denn sie gehört den beiden begrenzten Dingen und ist keins von beiden. Die Sprache kann angesehen werden als das Erwachen des Geistes aus seinem Schlafe im Zustande der Seele. Hier haben wir denselben Widerspruch. Erwachen ist noch nicht Wachen und doch nicht mehr Schlafen. Diese Widersprüche können wir hier ruhig bei Seite las- sen; sie gehören in die Metaphysik, der sie von den Special- Wissenschaften übergeben worden. Ein anderer Widerspruch aber geht uns näher an. Das Erwachen ist ein Selbstwecken; aber wie kann das schlafende Wesen sich selbst wecken? muß man nicht wach sein, um wecken zu können? Die menschliche Seele kann nur erwachen, insofern sie Geist ist; das weckende Princip in ihr ist der Geist. Bevor aber die Seele wacht, ist der Geist noch nicht; wie kann er also wecken? Erst mit dem Erwachen wird die Seele zum Selbst, und doch ist dieses Selbst das Weckende; also wäre das vor dem Erwachen schon da, was erst durch das Erwachen entstehen soll. Und warum er- wacht nicht auch die thierische Seele zum Geiste? Um dies zu erklären, bleiben wir bei der Analogie des leibli- chen Schlafes stehen. Man erwacht nicht mit einem andern see- lischen oder geistigen Wesen, als mit dem man sich niedergelegt hat; sondern man ist schlafend und wachend ganz derselbe. Der Unterschied aber beruht darauf, daß im Schlafe ein Druck des ermüdeten Leibes auf dem Bewußtsein lastet; und eben so überall, wo Bewußtlosigkeit eintritt. Wie das Einschlafen durch die immer wachsende Kraft des Druckes geschieht, so kommt um- gekehrt das Erwachen dadurch zu Stande, daß der sich erho- lende Körper mit seinem Drucke in gleichem Verhältnisse nach- läßt, als er an Spannkraft gewinnt; und endlich wird die Ner- venerregung durch die angesammelte Kraft von selbst so groß, daß der Druck völlig schwindet, und die Thätigkeit des Leibes und der Seele neu beginnt. Anders kann es auch in unserm Falle nicht sein. Wir müssen schon im Urmenschen und im

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/339>, abgerufen am 24.04.2024.