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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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§. 98. Speciellere Definition der Sprache.

Ich denke, man unterscheidet bei diesen onomatopoetisch
gebildeten Wörtern, wie bei den Interjectionen, etwa pah, sehr
leicht die drei Factoren oder constitutiven Elemente der Sprache:
die Anschauung des Dinges und den Werth der Interjection als
Bedeutung (z. B. bei pah! etwa: dies Ding ist nichts werth,
geht mich nichts an), den Laut (die bestimmte Articulation der
Lippen mit dem kurzen a), und die innere Sprachform,
das Band zwischen Laut und Bedeutung, das Merkmal der An-
schauung, welches das Bewußtsein, indem es die gewonnene
Anschauung anschaut, heraushebend bemerkt (ich schätze dies
Ding wie einen Hauch). Welches Merkmal aber wird das Be-
wußtsein aus dem ganzen Complex der Empfindungen, aus de-
nen die Anschauung gebildet ist, hervorheben? Und woher
kommt es, daß es nicht die ganze ungetheilte Anschauung an-
schaut, sondern dieselbe nur theilweise ergreift? Hierüber scheint
mir Folgendes zu bemerken.

Daß Vorstellungen von Thätigkeiten unmittelbar auf die
Nerven wirken, welche die wirkliche Ausübung dieser Thätig-
keiten veranlassen, scheint mir nicht besonders räthselhaft; denn
was ist die Absicht, der Wille anderes, als eine vorgestellte Thä-
tigkeit oder die Vorstellung einer Thätigkeit? Bei dem innigen
Zusammenhange zwischen Seele und Leib bedarf nicht diese Er-
scheinung einer Erklärung, daß nämlich der Körper unmittelbar
vollzieht, was die Seele vorstellt; sondern nur die entgegenge-
setzte Erscheinung verlangt begreiflich gemacht zu werden: daß
wir nämlich so viel vorstellen, was wir nicht ausführen; und
die Erklärung hiervon liegt in der Selbstbeherrschung des Gei-
stes. Daß ferner Gefühle Bewegungen verursachen durch ihre
Reflectirung mittelst des Centralorgans auf naheliegende Bewe-
gungsnerven, hat wiederum nichts Auffallendes. Daß aber An-
schauungen Bewegungen verursachen, die gar nichts mit der
Verwirklichung jener Anschauungen zu thun haben, wie dies in
der Sprache vorliegt -- da das Tönen und Articuliren keine Aus-
führung der angeschauten Dinge oder Bewegungen ist --: dies
scheint mir nur dadurch erklärbar zu sein, daß wir die An-
schauungen von Gefühlen begleitet sein lsssen. Das aber kann
uns nicht in Verwunderung setzen, da die Anschauungen sowohl
mannigfach mit Gefühlen in der Seele associirt sind, als auch
an sich auf Empfindungen beruhen, die nur ganz besonders be-

§. 98. Speciellere Definition der Sprache.

Ich denke, man unterscheidet bei diesen onomatopoetisch
gebildeten Wörtern, wie bei den Interjectionen, etwa pah, sehr
leicht die drei Factoren oder constitutiven Elemente der Sprache:
die Anschauung des Dinges und den Werth der Interjection als
Bedeutung (z. B. bei pah! etwa: dies Ding ist nichts werth,
geht mich nichts an), den Laut (die bestimmte Articulation der
Lippen mit dem kurzen a), und die innere Sprachform,
das Band zwischen Laut und Bedeutung, das Merkmal der An-
schauung, welches das Bewußtsein, indem es die gewonnene
Anschauung anschaut, heraushebend bemerkt (ich schätze dies
Ding wie einen Hauch). Welches Merkmal aber wird das Be-
wußtsein aus dem ganzen Complex der Empfindungen, aus de-
nen die Anschauung gebildet ist, hervorheben? Und woher
kommt es, daß es nicht die ganze ungetheilte Anschauung an-
schaut, sondern dieselbe nur theilweise ergreift? Hierüber scheint
mir Folgendes zu bemerken.

Daß Vorstellungen von Thätigkeiten unmittelbar auf die
Nerven wirken, welche die wirkliche Ausübung dieser Thätig-
keiten veranlassen, scheint mir nicht besonders räthselhaft; denn
was ist die Absicht, der Wille anderes, als eine vorgestellte Thä-
tigkeit oder die Vorstellung einer Thätigkeit? Bei dem innigen
Zusammenhange zwischen Seele und Leib bedarf nicht diese Er-
scheinung einer Erklärung, daß nämlich der Körper unmittelbar
vollzieht, was die Seele vorstellt; sondern nur die entgegenge-
setzte Erscheinung verlangt begreiflich gemacht zu werden: daß
wir nämlich so viel vorstellen, was wir nicht ausführen; und
die Erklärung hiervon liegt in der Selbstbeherrschung des Gei-
stes. Daß ferner Gefühle Bewegungen verursachen durch ihre
Reflectirung mittelst des Centralorgans auf naheliegende Bewe-
gungsnerven, hat wiederum nichts Auffallendes. Daß aber An-
schauungen Bewegungen verursachen, die gar nichts mit der
Verwirklichung jener Anschauungen zu thun haben, wie dies in
der Sprache vorliegt — da das Tönen und Articuliren keine Aus-
führung der angeschauten Dinge oder Bewegungen ist —: dies
scheint mir nur dadurch erklärbar zu sein, daß wir die An-
schauungen von Gefühlen begleitet sein lsssen. Das aber kann
uns nicht in Verwunderung setzen, da die Anschauungen sowohl
mannigfach mit Gefühlen in der Seele associirt sind, als auch
an sich auf Empfindungen beruhen, die nur ganz besonders be-

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[310/0348] §. 98. Speciellere Definition der Sprache. Ich denke, man unterscheidet bei diesen onomatopoetisch gebildeten Wörtern, wie bei den Interjectionen, etwa pah, sehr leicht die drei Factoren oder constitutiven Elemente der Sprache: die Anschauung des Dinges und den Werth der Interjection als Bedeutung (z. B. bei pah! etwa: dies Ding ist nichts werth, geht mich nichts an), den Laut (die bestimmte Articulation der Lippen mit dem kurzen a), und die innere Sprachform, das Band zwischen Laut und Bedeutung, das Merkmal der An- schauung, welches das Bewußtsein, indem es die gewonnene Anschauung anschaut, heraushebend bemerkt (ich schätze dies Ding wie einen Hauch). Welches Merkmal aber wird das Be- wußtsein aus dem ganzen Complex der Empfindungen, aus de- nen die Anschauung gebildet ist, hervorheben? Und woher kommt es, daß es nicht die ganze ungetheilte Anschauung an- schaut, sondern dieselbe nur theilweise ergreift? Hierüber scheint mir Folgendes zu bemerken. Daß Vorstellungen von Thätigkeiten unmittelbar auf die Nerven wirken, welche die wirkliche Ausübung dieser Thätig- keiten veranlassen, scheint mir nicht besonders räthselhaft; denn was ist die Absicht, der Wille anderes, als eine vorgestellte Thä- tigkeit oder die Vorstellung einer Thätigkeit? Bei dem innigen Zusammenhange zwischen Seele und Leib bedarf nicht diese Er- scheinung einer Erklärung, daß nämlich der Körper unmittelbar vollzieht, was die Seele vorstellt; sondern nur die entgegenge- setzte Erscheinung verlangt begreiflich gemacht zu werden: daß wir nämlich so viel vorstellen, was wir nicht ausführen; und die Erklärung hiervon liegt in der Selbstbeherrschung des Gei- stes. Daß ferner Gefühle Bewegungen verursachen durch ihre Reflectirung mittelst des Centralorgans auf naheliegende Bewe- gungsnerven, hat wiederum nichts Auffallendes. Daß aber An- schauungen Bewegungen verursachen, die gar nichts mit der Verwirklichung jener Anschauungen zu thun haben, wie dies in der Sprache vorliegt — da das Tönen und Articuliren keine Aus- führung der angeschauten Dinge oder Bewegungen ist —: dies scheint mir nur dadurch erklärbar zu sein, daß wir die An- schauungen von Gefühlen begleitet sein lsssen. Das aber kann uns nicht in Verwunderung setzen, da die Anschauungen sowohl mannigfach mit Gefühlen in der Seele associirt sind, als auch an sich auf Empfindungen beruhen, die nur ganz besonders be-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/348>, abgerufen am 28.03.2024.