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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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nern Sprachform kann das Bewußtsein nicht mehr da sein, wo
wir es beim Aufgehen der Sprache fanden.

§. 103. Wesen der Vorstellung.

Die Anschauung, in der die Sprache ihre Wurzeln schlägt
und aus der sich ihr Stamm erhebt, ist, wie wir oben sahen,
ein Zusammen, ein Complex vieler Empfindungen, aber keine
Einheit. Diese Einheit wird nun eben in der Sprache gebildet,
und durch dieselbe wird die Anschauung zur Vorstellung.
Eine vermittelst der innern Sprachform erfaßte,
durch diese sich im Bewußtsein bewegende An-
schauung
ist Vorstellung. Diese ist also die Einheit der An-
schauung und der innern Sprachform. Da letztere an den Laut
geknüpft ist, theilweise sogar ganz und bloß im Laute liegt, so
müssen wir statt ihrer den Ausdruck setzen, welcher ihre Ein-
heit oder Verbindung mit dem Laute bezeichnet, nämlich: das
Wort
. Wort ist die Einheit eines Gedankens der innern Sprach-
form (oder des instinctiven Selbstbewußtseins), oder die Ein-
heit einer Anschauung von einer Anschauung mit dem zur Stütze
dienenden Laute. Die Vorstellung also ist die Einheit des Wor-
tes und der durch dieses Wort ausgedrückten Anschauung; oder
sie ist eine durch das Wort gedachte Anschauung.

Das Bewußtsein setzt beim Denken an die Stelle der An-
schauung die innere Sprachform derselben, und eine solche
Anschauung, welche dem Bewußtsein nicht unmit-
telbar gegenwärtig ist, auf welche aber das Bewußt-
sein mittelbar bezogen ist, indem es ihren Stellver-
treter, das Wort, vergegenwärtigt, ist Vorstellung
.

Wodurch ist denn nun die Anschauung, die zunächst eine
Summe von Wahrnehmungen war, zu einer eigentlichen Einheit
geworden; wodurch ist die Kategorie des Dinges entstanden?
Hier begreifen wir das zwar noch nicht vollkommen; aber etwas
Bedeutendes erkennen wir schon. Indem nämlich durch die An-
schauung der Anschauung ein Moment herausgehoben wurde,
welches die Sprache zur Bezeichnung der ganzen Anschauung,
d. h. der Summe aller Momente, verwendet; indem dann ferner
das Bewußtsein es sich gefallen läßt, das so entstandene Wort
für die Anschauung selbst gelten zu lassen: so ist gerade durch
das Wort die Summe in eine Einheit versammelt worden; denn
die ganze Summe wird auf das Wort bezogen, so daß sich ge-
wissermaßen eine Pyramide bildet oder ein Kegel, dessen Grund-

nern Sprachform kann das Bewußtsein nicht mehr da sein, wo
wir es beim Aufgehen der Sprache fanden.

§. 103. Wesen der Vorstellung.

Die Anschauung, in der die Sprache ihre Wurzeln schlägt
und aus der sich ihr Stamm erhebt, ist, wie wir oben sahen,
ein Zusammen, ein Complex vieler Empfindungen, aber keine
Einheit. Diese Einheit wird nun eben in der Sprache gebildet,
und durch dieselbe wird die Anschauung zur Vorstellung.
Eine vermittelst der innern Sprachform erfaßte,
durch diese sich im Bewußtsein bewegende An-
schauung
ist Vorstellung. Diese ist also die Einheit der An-
schauung und der innern Sprachform. Da letztere an den Laut
geknüpft ist, theilweise sogar ganz und bloß im Laute liegt, so
müssen wir statt ihrer den Ausdruck setzen, welcher ihre Ein-
heit oder Verbindung mit dem Laute bezeichnet, nämlich: das
Wort
. Wort ist die Einheit eines Gedankens der innern Sprach-
form (oder des instinctiven Selbstbewußtseins), oder die Ein-
heit einer Anschauung von einer Anschauung mit dem zur Stütze
dienenden Laute. Die Vorstellung also ist die Einheit des Wor-
tes und der durch dieses Wort ausgedrückten Anschauung; oder
sie ist eine durch das Wort gedachte Anschauung.

Das Bewußtsein setzt beim Denken an die Stelle der An-
schauung die innere Sprachform derselben, und eine solche
Anschauung, welche dem Bewußtsein nicht unmit-
telbar gegenwärtig ist, auf welche aber das Bewußt-
sein mittelbar bezogen ist, indem es ihren Stellver-
treter, das Wort, vergegenwärtigt, ist Vorstellung
.

Wodurch ist denn nun die Anschauung, die zunächst eine
Summe von Wahrnehmungen war, zu einer eigentlichen Einheit
geworden; wodurch ist die Kategorie des Dinges entstanden?
Hier begreifen wir das zwar noch nicht vollkommen; aber etwas
Bedeutendes erkennen wir schon. Indem nämlich durch die An-
schauung der Anschauung ein Moment herausgehoben wurde,
welches die Sprache zur Bezeichnung der ganzen Anschauung,
d. h. der Summe aller Momente, verwendet; indem dann ferner
das Bewußtsein es sich gefallen läßt, das so entstandene Wort
für die Anschauung selbst gelten zu lassen: so ist gerade durch
das Wort die Summe in eine Einheit versammelt worden; denn
die ganze Summe wird auf das Wort bezogen, so daß sich ge-
wissermaßen eine Pyramide bildet oder ein Kegel, dessen Grund-

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[319/0357] nern Sprachform kann das Bewußtsein nicht mehr da sein, wo wir es beim Aufgehen der Sprache fanden. §. 103. Wesen der Vorstellung. Die Anschauung, in der die Sprache ihre Wurzeln schlägt und aus der sich ihr Stamm erhebt, ist, wie wir oben sahen, ein Zusammen, ein Complex vieler Empfindungen, aber keine Einheit. Diese Einheit wird nun eben in der Sprache gebildet, und durch dieselbe wird die Anschauung zur Vorstellung. Eine vermittelst der innern Sprachform erfaßte, durch diese sich im Bewußtsein bewegende An- schauung ist Vorstellung. Diese ist also die Einheit der An- schauung und der innern Sprachform. Da letztere an den Laut geknüpft ist, theilweise sogar ganz und bloß im Laute liegt, so müssen wir statt ihrer den Ausdruck setzen, welcher ihre Ein- heit oder Verbindung mit dem Laute bezeichnet, nämlich: das Wort. Wort ist die Einheit eines Gedankens der innern Sprach- form (oder des instinctiven Selbstbewußtseins), oder die Ein- heit einer Anschauung von einer Anschauung mit dem zur Stütze dienenden Laute. Die Vorstellung also ist die Einheit des Wor- tes und der durch dieses Wort ausgedrückten Anschauung; oder sie ist eine durch das Wort gedachte Anschauung. Das Bewußtsein setzt beim Denken an die Stelle der An- schauung die innere Sprachform derselben, und eine solche Anschauung, welche dem Bewußtsein nicht unmit- telbar gegenwärtig ist, auf welche aber das Bewußt- sein mittelbar bezogen ist, indem es ihren Stellver- treter, das Wort, vergegenwärtigt, ist Vorstellung. Wodurch ist denn nun die Anschauung, die zunächst eine Summe von Wahrnehmungen war, zu einer eigentlichen Einheit geworden; wodurch ist die Kategorie des Dinges entstanden? Hier begreifen wir das zwar noch nicht vollkommen; aber etwas Bedeutendes erkennen wir schon. Indem nämlich durch die An- schauung der Anschauung ein Moment herausgehoben wurde, welches die Sprache zur Bezeichnung der ganzen Anschauung, d. h. der Summe aller Momente, verwendet; indem dann ferner das Bewußtsein es sich gefallen läßt, das so entstandene Wort für die Anschauung selbst gelten zu lassen: so ist gerade durch das Wort die Summe in eine Einheit versammelt worden; denn die ganze Summe wird auf das Wort bezogen, so daß sich ge- wissermaßen eine Pyramide bildet oder ein Kegel, dessen Grund-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/357>, abgerufen am 29.03.2024.