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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Aber auch das Rauschen der Blätter, das Plätschern des Baches,
das Heulen des Sturmes, kurz das Tönen der leblosen Natur,
wirkt eben so auf unser Gefühl; und in Folge dessen belebte
die Phantasie kindlicher Völker die Natur. Und nun erst gar
die Musik, die sämmtliche Tonverhältnisse verwendet, in einer
so mannigfaltigen Combination, wie sie der menschliche Geist
sonst nirgends erzeugt!

Diese Wirkung der Sinnes-Empfindungen auf unser Gefühl
mag darauf beruhen, daß sie die Nerven in Zustände versetzen,
wobei der Zusammenhang ihrer Elemente, wie auch ihr Verhält-
niß zum Centralorgan eigenthümlich gestaltet wird. Kommen
uns nun aber die Töne, um bei diesen stehen zu bleiben, von
einem lebenden, fühlenden, denkenden Wesen zu: so werden wir
allemal, z. B. beim Gesang, stillschweigend voraussetzen, dieses
Wesen habe das Gefühl, welches auch uns, wenn wir es hätten,
veranlassen würde, eben so zu tönen. Daher ist das Gefühl,
welches durch den Gesang erzeugt wird, lebendiger, aber auch
gemischter, als das durch reine Instrumental-Musik erzeugte.
Aber auch rücksichtlich der letztern werden wir, wenn wir uns
ihre Wirkung auf unser Gemüth klar deuten wollen, wie die
Aesthetik es thut, voraussetzen müssen, daß dieselben Gefühle,
die sie in uns erregt hat, zwar nicht in den Instrumenten oder
in den Musikanten, aber doch im Tondichter gewaltet und ihm
solche Töne eingegeben haben, wie sie nothwendig in jedem Hö-
renden dieselben Gefühle bewirken müssen, von denen sie ver-
ursacht sind. Bei solcher Untersuchung der innern Bedeutung
der Töne fällt also die Deutung der Ursache und die der Wir-
kung zusammen.

Eben so wie die musikalischen und Naturtöne, sind auch
die Sprachtöne in doppelter Weise zu deuten: einmal von Sei-
ten der mechanischen Causalität, nach welcher z. B. ein Ton
zurückgeführt wird auf die Schwingungen einer Saite, welche
aus diesem oder jenem Stoffe besteht; in solchem oder einem
andern Grade gespannt, so oder so lang und stark, irgendwie
in Schwingung versetzt ist, und solchen Resonanzboden hat; das
andere Mal von Seiten der innern Ursache, welche identisch ist
mit der innern Wirkung. Hierdurch wird also der Grammatik
die Aufgabe gestellt, zuerst die Sprache als Laute in ihrer äu-
ßern Ursächlichkeit zu erklären, ihre Entstehung durch die
Sprachorgane: Lautlehre; und ferner die innere Ursache zu

Aber auch das Rauschen der Blätter, das Plätschern des Baches,
das Heulen des Sturmes, kurz das Tönen der leblosen Natur,
wirkt eben so auf unser Gefühl; und in Folge dessen belebte
die Phantasie kindlicher Völker die Natur. Und nun erst gar
die Musik, die sämmtliche Tonverhältnisse verwendet, in einer
so mannigfaltigen Combination, wie sie der menschliche Geist
sonst nirgends erzeugt!

Diese Wirkung der Sinnes-Empfindungen auf unser Gefühl
mag darauf beruhen, daß sie die Nerven in Zustände versetzen,
wobei der Zusammenhang ihrer Elemente, wie auch ihr Verhält-
niß zum Centralorgan eigenthümlich gestaltet wird. Kommen
uns nun aber die Töne, um bei diesen stehen zu bleiben, von
einem lebenden, fühlenden, denkenden Wesen zu: so werden wir
allemal, z. B. beim Gesang, stillschweigend voraussetzen, dieses
Wesen habe das Gefühl, welches auch uns, wenn wir es hätten,
veranlassen würde, eben so zu tönen. Daher ist das Gefühl,
welches durch den Gesang erzeugt wird, lebendiger, aber auch
gemischter, als das durch reine Instrumental-Musik erzeugte.
Aber auch rücksichtlich der letztern werden wir, wenn wir uns
ihre Wirkung auf unser Gemüth klar deuten wollen, wie die
Aesthetik es thut, voraussetzen müssen, daß dieselben Gefühle,
die sie in uns erregt hat, zwar nicht in den Instrumenten oder
in den Musikanten, aber doch im Tondichter gewaltet und ihm
solche Töne eingegeben haben, wie sie nothwendig in jedem Hö-
renden dieselben Gefühle bewirken müssen, von denen sie ver-
ursacht sind. Bei solcher Untersuchung der innern Bedeutung
der Töne fällt also die Deutung der Ursache und die der Wir-
kung zusammen.

Eben so wie die musikalischen und Naturtöne, sind auch
die Sprachtöne in doppelter Weise zu deuten: einmal von Sei-
ten der mechanischen Causalität, nach welcher z. B. ein Ton
zurückgeführt wird auf die Schwingungen einer Saite, welche
aus diesem oder jenem Stoffe besteht; in solchem oder einem
andern Grade gespannt, so oder so lang und stark, irgendwie
in Schwingung versetzt ist, und solchen Resonanzboden hat; das
andere Mal von Seiten der innern Ursache, welche identisch ist
mit der innern Wirkung. Hierdurch wird also der Grammatik
die Aufgabe gestellt, zuerst die Sprache als Laute in ihrer äu-
ßern Ursächlichkeit zu erklären, ihre Entstehung durch die
Sprachorgane: Lautlehre; und ferner die innere Ursache zu

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[345/0383] Aber auch das Rauschen der Blätter, das Plätschern des Baches, das Heulen des Sturmes, kurz das Tönen der leblosen Natur, wirkt eben so auf unser Gefühl; und in Folge dessen belebte die Phantasie kindlicher Völker die Natur. Und nun erst gar die Musik, die sämmtliche Tonverhältnisse verwendet, in einer so mannigfaltigen Combination, wie sie der menschliche Geist sonst nirgends erzeugt! Diese Wirkung der Sinnes-Empfindungen auf unser Gefühl mag darauf beruhen, daß sie die Nerven in Zustände versetzen, wobei der Zusammenhang ihrer Elemente, wie auch ihr Verhält- niß zum Centralorgan eigenthümlich gestaltet wird. Kommen uns nun aber die Töne, um bei diesen stehen zu bleiben, von einem lebenden, fühlenden, denkenden Wesen zu: so werden wir allemal, z. B. beim Gesang, stillschweigend voraussetzen, dieses Wesen habe das Gefühl, welches auch uns, wenn wir es hätten, veranlassen würde, eben so zu tönen. Daher ist das Gefühl, welches durch den Gesang erzeugt wird, lebendiger, aber auch gemischter, als das durch reine Instrumental-Musik erzeugte. Aber auch rücksichtlich der letztern werden wir, wenn wir uns ihre Wirkung auf unser Gemüth klar deuten wollen, wie die Aesthetik es thut, voraussetzen müssen, daß dieselben Gefühle, die sie in uns erregt hat, zwar nicht in den Instrumenten oder in den Musikanten, aber doch im Tondichter gewaltet und ihm solche Töne eingegeben haben, wie sie nothwendig in jedem Hö- renden dieselben Gefühle bewirken müssen, von denen sie ver- ursacht sind. Bei solcher Untersuchung der innern Bedeutung der Töne fällt also die Deutung der Ursache und die der Wir- kung zusammen. Eben so wie die musikalischen und Naturtöne, sind auch die Sprachtöne in doppelter Weise zu deuten: einmal von Sei- ten der mechanischen Causalität, nach welcher z. B. ein Ton zurückgeführt wird auf die Schwingungen einer Saite, welche aus diesem oder jenem Stoffe besteht; in solchem oder einem andern Grade gespannt, so oder so lang und stark, irgendwie in Schwingung versetzt ist, und solchen Resonanzboden hat; das andere Mal von Seiten der innern Ursache, welche identisch ist mit der innern Wirkung. Hierdurch wird also der Grammatik die Aufgabe gestellt, zuerst die Sprache als Laute in ihrer äu- ßern Ursächlichkeit zu erklären, ihre Entstehung durch die Sprachorgane: Lautlehre; und ferner die innere Ursache zu

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/383>, abgerufen am 20.04.2024.