Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

keinen andern Werth und keine andere Bedeutung haben, als
die in ihrer Form liegt, also als Form zu sein: so ist auch die
Sprache, sowohl Laut, als instinctives Selbstbewußtsein, bloß
Form, oder bloß geformt. So wie Farbe und Leinwand des
Bildes gar nicht als Farbe und Leinwand gelten wollen, sondern
als etwas ganz anderes: so wollen auch Laut und instinctives
Selbstbewußtsein für etwas anderes gelten; und hier, wie dort
beruht die Geltung auf der Form, also bei der Sprache auf der
bestimmten Articulation oder Lautform und der bestimmten An-
schauung der Anschauung.

Nun geschieht aber ferner jede Thätigkeit, jede Bewegung
nach gewissen Formen, Bestimmungen, Gesetzen, Regeln, in ge-
wissen Bahnen, Kategorien. Das Athmen geschieht durch Aus-
und Einathmen, welche beide man die Hauptkategorien des Ath-
mens nennen könnte; beim Blutumlauf kommt das Zusammen-
ziehen und Ausdehnen des Herzens, die beiden Kammern des
Herzens, der Unterschied von Arterie und Vene, der Puls in
Betracht, und das sind seine Kategorien oder Formen; der Tanz
hat seine Schritte, kreisend oder einfach vorschreitend, oder auf
derselben Stelle beharrend; die Metrik hat Füße, Verse, Cä-
suren u. s. w.; der Tischler hobelt, sägt, fügt in einander und
leimt zusammen. So hat auch die Sprache ihre Kategorien, wie
Sylbe, Wort, Wortbeugung, Wortfügung, Lautgesetze und syn-
taktische Gesetze.

Wir haben hier einen Unterschied aufgestellt, der besonders
bei der groben Vergleichung mit dem Tischler klar wird, zwi-
schen formender Thätigkeit und der dadurch erzeugten Form.
Das Hobeln, Sägen, u. s. w. sind die formbildenden Thätigkei-
ten, wodurch eine Form an einem Stoffe, ein geformtes Ding
entsteht. Beim Tanze beschreibt der Fuß und der ganze Kör-
per Linien in der Luft und auf dem Boden; diese Linien sind
die geformten Dinge, die Ergebnisse der formbildenden Bewe-
gung des Fußes und des Körpers. So scheint es nun, als er-
hielten wir eine doppelte Classe der Kategorien: Bestimmungen
der Form, welche für die Dauer als Erfolge gewisser Bewegun-
gen entstanden sind; und Bestimmungen dieser gestaltenden Be-
wegungen selbst. So würden für die Sprache die Lautgesetze die
Bestimmungen der Bewegung sein, durch welche die feste Wort-
form entsteht; die Wortfügung hat eben so ihre Gesetze und
durch sie entstehen die Casus, Redetheile u. s. w. als gebildete

keinen andern Werth und keine andere Bedeutung haben, als
die in ihrer Form liegt, also als Form zu sein: so ist auch die
Sprache, sowohl Laut, als instinctives Selbstbewußtsein, bloß
Form, oder bloß geformt. So wie Farbe und Leinwand des
Bildes gar nicht als Farbe und Leinwand gelten wollen, sondern
als etwas ganz anderes: so wollen auch Laut und instinctives
Selbstbewußtsein für etwas anderes gelten; und hier, wie dort
beruht die Geltung auf der Form, also bei der Sprache auf der
bestimmten Articulation oder Lautform und der bestimmten An-
schauung der Anschauung.

Nun geschieht aber ferner jede Thätigkeit, jede Bewegung
nach gewissen Formen, Bestimmungen, Gesetzen, Regeln, in ge-
wissen Bahnen, Kategorien. Das Athmen geschieht durch Aus-
und Einathmen, welche beide man die Hauptkategorien des Ath-
mens nennen könnte; beim Blutumlauf kommt das Zusammen-
ziehen und Ausdehnen des Herzens, die beiden Kammern des
Herzens, der Unterschied von Arterie und Vene, der Puls in
Betracht, und das sind seine Kategorien oder Formen; der Tanz
hat seine Schritte, kreisend oder einfach vorschreitend, oder auf
derselben Stelle beharrend; die Metrik hat Füße, Verse, Cä-
suren u. s. w.; der Tischler hobelt, sägt, fügt in einander und
leimt zusammen. So hat auch die Sprache ihre Kategorien, wie
Sylbe, Wort, Wortbeugung, Wortfügung, Lautgesetze und syn-
taktische Gesetze.

Wir haben hier einen Unterschied aufgestellt, der besonders
bei der groben Vergleichung mit dem Tischler klar wird, zwi-
schen formender Thätigkeit und der dadurch erzeugten Form.
Das Hobeln, Sägen, u. s. w. sind die formbildenden Thätigkei-
ten, wodurch eine Form an einem Stoffe, ein geformtes Ding
entsteht. Beim Tanze beschreibt der Fuß und der ganze Kör-
per Linien in der Luft und auf dem Boden; diese Linien sind
die geformten Dinge, die Ergebnisse der formbildenden Bewe-
gung des Fußes und des Körpers. So scheint es nun, als er-
hielten wir eine doppelte Classe der Kategorien: Bestimmungen
der Form, welche für die Dauer als Erfolge gewisser Bewegun-
gen entstanden sind; und Bestimmungen dieser gestaltenden Be-
wegungen selbst. So würden für die Sprache die Lautgesetze die
Bestimmungen der Bewegung sein, durch welche die feste Wort-
form entsteht; die Wortfügung hat eben so ihre Gesetze und
durch sie entstehen die Casus, Redetheile u. s. w. als gebildete

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0397" n="359"/>
keinen andern Werth und keine andere <choice><sic>Bedeutuug</sic><corr>Bedeutung</corr></choice> haben, als<lb/>
die in ihrer Form liegt, also als Form zu sein: so ist auch die<lb/>
Sprache, sowohl Laut, als instinctives Selbstbewußtsein, bloß<lb/>
Form, oder bloß geformt. So wie Farbe und Leinwand des<lb/>
Bildes gar nicht als Farbe und Leinwand gelten wollen, sondern<lb/>
als etwas ganz anderes: so wollen auch Laut und instinctives<lb/>
Selbstbewußtsein für etwas anderes gelten; und hier, wie dort<lb/>
beruht die Geltung auf der Form, also bei der Sprache auf der<lb/>
bestimmten Articulation oder Lautform und der bestimmten An-<lb/>
schauung der Anschauung.</p><lb/>
                  <p>Nun geschieht aber ferner jede Thätigkeit, jede Bewegung<lb/>
nach gewissen Formen, Bestimmungen, Gesetzen, Regeln, in ge-<lb/>
wissen Bahnen, Kategorien. Das Athmen geschieht durch Aus-<lb/>
und Einathmen, welche beide man die Hauptkategorien des Ath-<lb/>
mens nennen könnte; beim Blutumlauf kommt das Zusammen-<lb/>
ziehen und Ausdehnen des Herzens, die beiden Kammern des<lb/>
Herzens, der Unterschied von Arterie und Vene, der Puls in<lb/>
Betracht, und das sind seine Kategorien oder Formen; der Tanz<lb/>
hat seine Schritte, kreisend oder einfach vorschreitend, oder auf<lb/>
derselben Stelle beharrend; die Metrik hat Füße, Verse, Cä-<lb/>
suren u. s. w.; der Tischler hobelt, sägt, fügt in einander und<lb/>
leimt zusammen. So hat auch die Sprache ihre Kategorien, wie<lb/>
Sylbe, Wort, Wortbeugung, Wortfügung, Lautgesetze und syn-<lb/>
taktische Gesetze.</p><lb/>
                  <p>Wir haben hier einen Unterschied aufgestellt, der besonders<lb/>
bei der groben Vergleichung mit dem Tischler klar wird, zwi-<lb/>
schen formender Thätigkeit und der dadurch erzeugten Form.<lb/>
Das Hobeln, Sägen, u. s. w. sind die formbildenden Thätigkei-<lb/>
ten, wodurch eine Form an einem Stoffe, ein geformtes Ding<lb/>
entsteht. Beim Tanze beschreibt der Fuß und der ganze Kör-<lb/>
per Linien in der Luft und auf dem Boden; diese Linien sind<lb/>
die geformten Dinge, die Ergebnisse der formbildenden Bewe-<lb/>
gung des Fußes und des Körpers. So scheint es nun, als er-<lb/>
hielten wir eine doppelte Classe der Kategorien: Bestimmungen<lb/>
der Form, welche für die Dauer als Erfolge gewisser Bewegun-<lb/>
gen entstanden sind; und Bestimmungen dieser gestaltenden Be-<lb/>
wegungen selbst. So würden für die Sprache die Lautgesetze die<lb/>
Bestimmungen der Bewegung sein, durch welche die feste Wort-<lb/>
form entsteht; die Wortfügung hat eben so ihre Gesetze und<lb/>
durch sie entstehen die Casus, Redetheile u. s. w. als gebildete<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[359/0397] keinen andern Werth und keine andere Bedeutung haben, als die in ihrer Form liegt, also als Form zu sein: so ist auch die Sprache, sowohl Laut, als instinctives Selbstbewußtsein, bloß Form, oder bloß geformt. So wie Farbe und Leinwand des Bildes gar nicht als Farbe und Leinwand gelten wollen, sondern als etwas ganz anderes: so wollen auch Laut und instinctives Selbstbewußtsein für etwas anderes gelten; und hier, wie dort beruht die Geltung auf der Form, also bei der Sprache auf der bestimmten Articulation oder Lautform und der bestimmten An- schauung der Anschauung. Nun geschieht aber ferner jede Thätigkeit, jede Bewegung nach gewissen Formen, Bestimmungen, Gesetzen, Regeln, in ge- wissen Bahnen, Kategorien. Das Athmen geschieht durch Aus- und Einathmen, welche beide man die Hauptkategorien des Ath- mens nennen könnte; beim Blutumlauf kommt das Zusammen- ziehen und Ausdehnen des Herzens, die beiden Kammern des Herzens, der Unterschied von Arterie und Vene, der Puls in Betracht, und das sind seine Kategorien oder Formen; der Tanz hat seine Schritte, kreisend oder einfach vorschreitend, oder auf derselben Stelle beharrend; die Metrik hat Füße, Verse, Cä- suren u. s. w.; der Tischler hobelt, sägt, fügt in einander und leimt zusammen. So hat auch die Sprache ihre Kategorien, wie Sylbe, Wort, Wortbeugung, Wortfügung, Lautgesetze und syn- taktische Gesetze. Wir haben hier einen Unterschied aufgestellt, der besonders bei der groben Vergleichung mit dem Tischler klar wird, zwi- schen formender Thätigkeit und der dadurch erzeugten Form. Das Hobeln, Sägen, u. s. w. sind die formbildenden Thätigkei- ten, wodurch eine Form an einem Stoffe, ein geformtes Ding entsteht. Beim Tanze beschreibt der Fuß und der ganze Kör- per Linien in der Luft und auf dem Boden; diese Linien sind die geformten Dinge, die Ergebnisse der formbildenden Bewe- gung des Fußes und des Körpers. So scheint es nun, als er- hielten wir eine doppelte Classe der Kategorien: Bestimmungen der Form, welche für die Dauer als Erfolge gewisser Bewegun- gen entstanden sind; und Bestimmungen dieser gestaltenden Be- wegungen selbst. So würden für die Sprache die Lautgesetze die Bestimmungen der Bewegung sein, durch welche die feste Wort- form entsteht; die Wortfügung hat eben so ihre Gesetze und durch sie entstehen die Casus, Redetheile u. s. w. als gebildete

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/397
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/397>, abgerufen am 29.03.2024.