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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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In dem genannten Briefe sieht Humboldt im Infinitiv "die
Darstellung des reinen Bewegens in der Zeit". Der Infinitiv
habe also dieselbe Bedeutung wie die Wurzel, und die Endung
desselben habe weiter keinen Werth als den, jede andere En-
dung auszuschließen, da eine bloße Wurzel in den flectirenden
Sprachen nicht auftreten darf. Er ist also das Verbum an sich,
reiner Ausdruck der Energie, der Bewegung. Dies wäre ei-
gentlich "ein vorgrammatischer Zustand" des Verbums, und ge-
rade diesen würde die Infinitiv-Endung bezeichnen. Humboldt
nennt den Infinitiv "eine bloße, allgemeine und vage ausgedrückte
Wahrnehmung. Hitze ist ein Abstractum, heißes Eisen zusam-
menzufügen, ist schon bestimmte Sprechart, aber Eisen heiß zu
sagen, ist der unmittelbare und unverbundene Ausdruck der
Wahrnehmung. Wie nun da heiß steht, so scheint mir (Hum-
boldt) der Infinitiv zu sein" d. h. wesentlich nichts anderes als
"Wurzel", "Stoff", aus dem die übrigen Verbalformen werden.

Ich kann allem dem nicht beipflichten. Als wahr aber müs-
sen wir in Humboldts Ansicht eins anerkennen -- und davon
wollen wir ausgehen --, daß der Infinitiv "die ganze Verbal-
natur beibehält", folglich "streng zum Verbum zu rechnen" und
"als etwas vom Attributivum und Substantivum verschiedenes
anzusehen" ist. Die Schwierigkeit scheint mir in der That nur
damit zu beginnen, daß wir fragen: was ist "die ganze Ver-
balnatur"? Denn etwas Nominales ist genau genommen ganz
und gar nicht im Infinitiv. Niemand, denke ich, wenn er sagt:
ich will essen, ich sehe blitzen; fühlt hier im Infinitiv auch nur
eine Spur von nominalem Wesen. Der Deutsche konnte sich
rücksichtlich des Infinitivs leicht täuschen. Unsere Sprache neigt
zu Abstractionen, und die Substantiva sind den Abstractionen
günstiger, als die Verba, in denen eine sinnlichere Natur liegt.
Jedes Substantivum ist schon ein Abstractum, da es einen Art-
begriff, ein Allgemeines, ein Ding an sich bezeichnet; die Natur
des Verbums besteht gerade im Gegentheil darin, dieses Ab-
stractum des Subjects in die unmittelbare Wirklichkeit zu ver-
setzen. Der Infinitiv aber bietet sich mit Hülfe des Artikels
leicht zur Abstraction dar, und der Deutsche hat davon einen
so reichlichen Gebrauch gemacht, daß er viel von der leben-
digen verbalen Natur des Infinitivs aus seinem Sprachgefühl ver-
loren hat. Im Französischen und noch mehr im Englischen hat
sich der Infinitiv viel kräftiger erhalten. Indessen Sätze, wie

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In dem genannten Briefe sieht Humboldt im Infinitiv „die
Darstellung des reinen Bewegens in der Zeit“. Der Infinitiv
habe also dieselbe Bedeutung wie die Wurzel, und die Endung
desselben habe weiter keinen Werth als den, jede andere En-
dung auszuschließen, da eine bloße Wurzel in den flectirenden
Sprachen nicht auftreten darf. Er ist also das Verbum an sich,
reiner Ausdruck der Energie, der Bewegung. Dies wäre ei-
gentlich „ein vorgrammatischer Zustand“ des Verbums, und ge-
rade diesen würde die Infinitiv-Endung bezeichnen. Humboldt
nennt den Infinitiv „eine bloße, allgemeine und vage ausgedrückte
Wahrnehmung. Hitze ist ein Abstractum, heißes Eisen zusam-
menzufügen, ist schon bestimmte Sprechart, aber Eisen heiß zu
sagen, ist der unmittelbare und unverbundene Ausdruck der
Wahrnehmung. Wie nun da heiß steht, so scheint mir (Hum-
boldt) der Infinitiv zu sein“ d. h. wesentlich nichts anderes als
„Wurzel“, „Stoff“, aus dem die übrigen Verbalformen werden.

Ich kann allem dem nicht beipflichten. Als wahr aber müs-
sen wir in Humboldts Ansicht eins anerkennen — und davon
wollen wir ausgehen —, daß der Infinitiv „die ganze Verbal-
natur beibehält“, folglich „streng zum Verbum zu rechnen“ und
„als etwas vom Attributivum und Substantivum verschiedenes
anzusehen“ ist. Die Schwierigkeit scheint mir in der That nur
damit zu beginnen, daß wir fragen: was ist „die ganze Ver-
balnatur“? Denn etwas Nominales ist genau genommen ganz
und gar nicht im Infinitiv. Niemand, denke ich, wenn er sagt:
ich will essen, ich sehe blitzen; fühlt hier im Infinitiv auch nur
eine Spur von nominalem Wesen. Der Deutsche konnte sich
rücksichtlich des Infinitivs leicht täuschen. Unsere Sprache neigt
zu Abstractionen, und die Substantiva sind den Abstractionen
günstiger, als die Verba, in denen eine sinnlichere Natur liegt.
Jedes Substantivum ist schon ein Abstractum, da es einen Art-
begriff, ein Allgemeines, ein Ding an sich bezeichnet; die Natur
des Verbums besteht gerade im Gegentheil darin, dieses Ab-
stractum des Subjects in die unmittelbare Wirklichkeit zu ver-
setzen. Der Infinitiv aber bietet sich mit Hülfe des Artikels
leicht zur Abstraction dar, und der Deutsche hat davon einen
so reichlichen Gebrauch gemacht, daß er viel von der leben-
digen verbalen Natur des Infinitivs aus seinem Sprachgefühl ver-
loren hat. Im Französischen und noch mehr im Englischen hat
sich der Infinitiv viel kräftiger erhalten. Indessen Sätze, wie

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[369/0407] In dem genannten Briefe sieht Humboldt im Infinitiv „die Darstellung des reinen Bewegens in der Zeit“. Der Infinitiv habe also dieselbe Bedeutung wie die Wurzel, und die Endung desselben habe weiter keinen Werth als den, jede andere En- dung auszuschließen, da eine bloße Wurzel in den flectirenden Sprachen nicht auftreten darf. Er ist also das Verbum an sich, reiner Ausdruck der Energie, der Bewegung. Dies wäre ei- gentlich „ein vorgrammatischer Zustand“ des Verbums, und ge- rade diesen würde die Infinitiv-Endung bezeichnen. Humboldt nennt den Infinitiv „eine bloße, allgemeine und vage ausgedrückte Wahrnehmung. Hitze ist ein Abstractum, heißes Eisen zusam- menzufügen, ist schon bestimmte Sprechart, aber Eisen heiß zu sagen, ist der unmittelbare und unverbundene Ausdruck der Wahrnehmung. Wie nun da heiß steht, so scheint mir (Hum- boldt) der Infinitiv zu sein“ d. h. wesentlich nichts anderes als „Wurzel“, „Stoff“, aus dem die übrigen Verbalformen werden. Ich kann allem dem nicht beipflichten. Als wahr aber müs- sen wir in Humboldts Ansicht eins anerkennen — und davon wollen wir ausgehen —, daß der Infinitiv „die ganze Verbal- natur beibehält“, folglich „streng zum Verbum zu rechnen“ und „als etwas vom Attributivum und Substantivum verschiedenes anzusehen“ ist. Die Schwierigkeit scheint mir in der That nur damit zu beginnen, daß wir fragen: was ist „die ganze Ver- balnatur“? Denn etwas Nominales ist genau genommen ganz und gar nicht im Infinitiv. Niemand, denke ich, wenn er sagt: ich will essen, ich sehe blitzen; fühlt hier im Infinitiv auch nur eine Spur von nominalem Wesen. Der Deutsche konnte sich rücksichtlich des Infinitivs leicht täuschen. Unsere Sprache neigt zu Abstractionen, und die Substantiva sind den Abstractionen günstiger, als die Verba, in denen eine sinnlichere Natur liegt. Jedes Substantivum ist schon ein Abstractum, da es einen Art- begriff, ein Allgemeines, ein Ding an sich bezeichnet; die Natur des Verbums besteht gerade im Gegentheil darin, dieses Ab- stractum des Subjects in die unmittelbare Wirklichkeit zu ver- setzen. Der Infinitiv aber bietet sich mit Hülfe des Artikels leicht zur Abstraction dar, und der Deutsche hat davon einen so reichlichen Gebrauch gemacht, daß er viel von der leben- digen verbalen Natur des Infinitivs aus seinem Sprachgefühl ver- loren hat. Im Französischen und noch mehr im Englischen hat sich der Infinitiv viel kräftiger erhalten. Indessen Sätze, wie 24

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/407>, abgerufen am 19.04.2024.