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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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die Aufmerksamkeit auf jene Kategorien, obwohl dieselben in je-
dem Augenblicke des Denkens wirklich thätig sind: gerade wie
die Gesetze des Blutumlaufes wirken, ohne daß sich der Mensch
dessen bewußt wird, wenn er nicht Physiologie studirt. Jene
Kategorien wirken also im Denken, wie die Gesetze in der Na-
tur, unbekümmert darum, ob man ihrer bewußt wird. Sie sind
mithin der Weise ihrer Entstehung und Existenz nach von al-
lem sonstigen Inhalte des Geistes verschieden. Denn ob der
Geist diese oder jene Kenntniß oder Vorstellung hat, hängt
nicht von ihm selbst ab; die Kenntnisse werden ihm von außen
gegeben: jene Kategorien aber werden ihm nicht gegeben; son-
dern er bildet sie aus, indem er Vorstellungen bildet, sie seien,
welche sie wollen, auf diesen oder jenen Theil der Welt be-
züglich, wahr oder falsch. Die Kategorien sind darum auch
ihrem Inhalte nach und in ihrem Verhältnisse zu den wirklichen
Gedanken ganz eigener Art. Wie der Strom sich selbst sein
Bett wühlt, so graben die Vorstellungen, welche der Geist faßt,
in der Seele Bahnen, in denen sich die folgenden Vorstellungen
ebenfalls weiter wälzen. Für das Bett ist es gleichgültig, ob
das darin fließende Wasser aufgelösten Kalk oder Eisen ent-
hält, oder ob es gar von flüssiger Lava ausgefüllt wird: solch
ein Bett sind die Formen des Geistes. Sie bezeichnen nur Ver-
hältnisse, deren Factoren die Wirklichkeit und das materiale
Denken liefert; sie entspringen mit und an dem materialen Den-
ken, wie Spuren, welche dieses auf seinem Wege zurückläßt.
Ding und Eigenschaft z. B. sind zwei leere Plätze, die in Be-
ziehung zu einander stehen, die aber erst durch das materiale
Denken ausgefüllt werden müssen.

Für uns ist es vorzüglich wichtig dies festzuhalten, daß
diese Kategorien-Spuren, welche sich beim Denken durch das-
selbe bilden, durchaus bewußtlos entstehen. Millionen Menschen
unterscheiden fortwährend Dinge und Eigenschaften, ohne die
Kategorien hiervon, Substanz und Attribut, im Bewußtsein zu
haben. Das Kind, der Wilde urtheilt schon nach causalem Zu-
sammenhange, ohne Bewußtsein über die Kategorie der Ursache.
Diese Kategorien, Substanz, Ursache, leben also im Geiste des
Wilden, sind energisch in ihm, werden ihm aber nicht bewußt.
Wie könnte also die Entstehung dieser Kategorien von seinem
Bewußtsein abhängen? sie entstehen von selbst mit und an dem
Denken in nothwendiger Weise.

die Aufmerksamkeit auf jene Kategorien, obwohl dieselben in je-
dem Augenblicke des Denkens wirklich thätig sind: gerade wie
die Gesetze des Blutumlaufes wirken, ohne daß sich der Mensch
dessen bewußt wird, wenn er nicht Physiologie studirt. Jene
Kategorien wirken also im Denken, wie die Gesetze in der Na-
tur, unbekümmert darum, ob man ihrer bewußt wird. Sie sind
mithin der Weise ihrer Entstehung und Existenz nach von al-
lem sonstigen Inhalte des Geistes verschieden. Denn ob der
Geist diese oder jene Kenntniß oder Vorstellung hat, hängt
nicht von ihm selbst ab; die Kenntnisse werden ihm von außen
gegeben: jene Kategorien aber werden ihm nicht gegeben; son-
dern er bildet sie aus, indem er Vorstellungen bildet, sie seien,
welche sie wollen, auf diesen oder jenen Theil der Welt be-
züglich, wahr oder falsch. Die Kategorien sind darum auch
ihrem Inhalte nach und in ihrem Verhältnisse zu den wirklichen
Gedanken ganz eigener Art. Wie der Strom sich selbst sein
Bett wühlt, so graben die Vorstellungen, welche der Geist faßt,
in der Seele Bahnen, in denen sich die folgenden Vorstellungen
ebenfalls weiter wälzen. Für das Bett ist es gleichgültig, ob
das darin fließende Wasser aufgelösten Kalk oder Eisen ent-
hält, oder ob es gar von flüssiger Lava ausgefüllt wird: solch
ein Bett sind die Formen des Geistes. Sie bezeichnen nur Ver-
hältnisse, deren Factoren die Wirklichkeit und das materiale
Denken liefert; sie entspringen mit und an dem materialen Den-
ken, wie Spuren, welche dieses auf seinem Wege zurückläßt.
Ding und Eigenschaft z. B. sind zwei leere Plätze, die in Be-
ziehung zu einander stehen, die aber erst durch das materiale
Denken ausgefüllt werden müssen.

Für uns ist es vorzüglich wichtig dies festzuhalten, daß
diese Kategorien-Spuren, welche sich beim Denken durch das-
selbe bilden, durchaus bewußtlos entstehen. Millionen Menschen
unterscheiden fortwährend Dinge und Eigenschaften, ohne die
Kategorien hiervon, Substanz und Attribut, im Bewußtsein zu
haben. Das Kind, der Wilde urtheilt schon nach causalem Zu-
sammenhange, ohne Bewußtsein über die Kategorie der Ursache.
Diese Kategorien, Substanz, Ursache, leben also im Geiste des
Wilden, sind energisch in ihm, werden ihm aber nicht bewußt.
Wie könnte also die Entstehung dieser Kategorien von seinem
Bewußtsein abhängen? sie entstehen von selbst mit und an dem
Denken in nothwendiger Weise.

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[377/0415] die Aufmerksamkeit auf jene Kategorien, obwohl dieselben in je- dem Augenblicke des Denkens wirklich thätig sind: gerade wie die Gesetze des Blutumlaufes wirken, ohne daß sich der Mensch dessen bewußt wird, wenn er nicht Physiologie studirt. Jene Kategorien wirken also im Denken, wie die Gesetze in der Na- tur, unbekümmert darum, ob man ihrer bewußt wird. Sie sind mithin der Weise ihrer Entstehung und Existenz nach von al- lem sonstigen Inhalte des Geistes verschieden. Denn ob der Geist diese oder jene Kenntniß oder Vorstellung hat, hängt nicht von ihm selbst ab; die Kenntnisse werden ihm von außen gegeben: jene Kategorien aber werden ihm nicht gegeben; son- dern er bildet sie aus, indem er Vorstellungen bildet, sie seien, welche sie wollen, auf diesen oder jenen Theil der Welt be- züglich, wahr oder falsch. Die Kategorien sind darum auch ihrem Inhalte nach und in ihrem Verhältnisse zu den wirklichen Gedanken ganz eigener Art. Wie der Strom sich selbst sein Bett wühlt, so graben die Vorstellungen, welche der Geist faßt, in der Seele Bahnen, in denen sich die folgenden Vorstellungen ebenfalls weiter wälzen. Für das Bett ist es gleichgültig, ob das darin fließende Wasser aufgelösten Kalk oder Eisen ent- hält, oder ob es gar von flüssiger Lava ausgefüllt wird: solch ein Bett sind die Formen des Geistes. Sie bezeichnen nur Ver- hältnisse, deren Factoren die Wirklichkeit und das materiale Denken liefert; sie entspringen mit und an dem materialen Den- ken, wie Spuren, welche dieses auf seinem Wege zurückläßt. Ding und Eigenschaft z. B. sind zwei leere Plätze, die in Be- ziehung zu einander stehen, die aber erst durch das materiale Denken ausgefüllt werden müssen. Für uns ist es vorzüglich wichtig dies festzuhalten, daß diese Kategorien-Spuren, welche sich beim Denken durch das- selbe bilden, durchaus bewußtlos entstehen. Millionen Menschen unterscheiden fortwährend Dinge und Eigenschaften, ohne die Kategorien hiervon, Substanz und Attribut, im Bewußtsein zu haben. Das Kind, der Wilde urtheilt schon nach causalem Zu- sammenhange, ohne Bewußtsein über die Kategorie der Ursache. Diese Kategorien, Substanz, Ursache, leben also im Geiste des Wilden, sind energisch in ihm, werden ihm aber nicht bewußt. Wie könnte also die Entstehung dieser Kategorien von seinem Bewußtsein abhängen? sie entstehen von selbst mit und an dem Denken in nothwendiger Weise.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/415>, abgerufen am 19.04.2024.