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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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sollte aus jenem Gesetze folgen? Ist denn die Sprache ein Stoff?
etwas Leibliches? Gesetzt aber, dies sei, sagt denn jenes Ge-
setz, daß das Leibliche nichts anderes ist, als das in ihm er-
scheinende Geistige? der Stoff nichts anderes als die in ihm
erscheinende Thätigkeit? der Stein z. B. ist nichts anderes als
die in ihm erscheinende Bewegung? oder Wärme? das Eisen
bloß der in ihm erscheinende Magnetismus? Gedanke und Spra-
che sollen aber "innerlich eins und dasselbe" sein; äußerlich
nicht? und was bedeutet denn hier innerlich und äußerlich? und
sind eben so Stoff und Thätigkeit innerlich eins und dasselbe?
Doch weiter! "Auch erhält der Gedanke erst dadurch Gestalt
und Vollendung, daß er ein gesprochener wird" (sollte dies Wort
"Vollendung" eine versteckte Bedeutung haben? oben hieß es
nur, das Geistige erhalte im Leiblichen "Begrenzung und Ge-
staltung;" soll Vollendung nichts mehr bedeuten als Begrenzung?);
"denn die Objecte der sinnlichen Anschauung, welche die
Verrichtung des Denkens in dem menschlichen Geiste zuerst
hervorrufen, werden gerade dadurch zu Begriffen, daß sie
durch die Rückbildung des Geistes in Objecte einer geisti-
gen
Anschauung verwandelt, und als solche in dem gesproche-
nen Worte dem Geiste gegenübergestellt werden." Wissen wir
nun, warum es Becker, bewußt oder unbewußt, gefiel, Be-
grenzung durch Vollendung zu ersetzen? Wenn nur durch die
Sprache die sinnliche Anschauung zum Begriffe wird, so wird
durch sie das Denken allerdings erst vollendet; aber keineswegs
begrenzt; denn die sinnliche Anschauung hat gerade festere Ge-
staltung, bestimmtere Begrenzung als der in der Sprache aus-
gedrückte, immer allgemeine Begriff. Wir hätten also hier bei
der Anwendung des allgemeinen Begriffs Organismus auf die
Sprache etwas Unangemessenes gefunden. Durch die Sprache
wird nämlich nicht, wie sonst durch die Verleiblichung geschieht,
sinnlichere Gestaltung, festere Concretion erzeugt, sondern, ganz
im Gegentheil, Verringerung der Sinnlichkeit und wachsende
Abstraction. So hat aber Becker die Sache nicht gemeint;
sondern die sinnliche Anschauung wird durch die Selbstthätig-
keit des Geistes zum Begriff, und dieser erhält erst im Worte
Begrenzung und Gestalt; das Wort ist concreter, sinnlicher als
der Begriff. Hierauf werden wir zurückkommen. Jetzt nur die
Frage, was ist denn das für eine "Rückwirkung des Geistes",
durch welche die sinnliche Anschauung in eine geistige verwan-

sollte aus jenem Gesetze folgen? Ist denn die Sprache ein Stoff?
etwas Leibliches? Gesetzt aber, dies sei, sagt denn jenes Ge-
setz, daß das Leibliche nichts anderes ist, als das in ihm er-
scheinende Geistige? der Stoff nichts anderes als die in ihm
erscheinende Thätigkeit? der Stein z. B. ist nichts anderes als
die in ihm erscheinende Bewegung? oder Wärme? das Eisen
bloß der in ihm erscheinende Magnetismus? Gedanke und Spra-
che sollen aber „innerlich eins und dasselbe“ sein; äußerlich
nicht? und was bedeutet denn hier innerlich und äußerlich? und
sind eben so Stoff und Thätigkeit innerlich eins und dasselbe?
Doch weiter! „Auch erhält der Gedanke erst dadurch Gestalt
und Vollendung, daß er ein gesprochener wird“ (sollte dies Wort
„Vollendung“ eine versteckte Bedeutung haben? oben hieß es
nur, das Geistige erhalte im Leiblichen „Begrenzung und Ge-
staltung;“ soll Vollendung nichts mehr bedeuten als Begrenzung?);
„denn die Objecte der sinnlichen Anschauung, welche die
Verrichtung des Denkens in dem menschlichen Geiste zuerst
hervorrufen, werden gerade dadurch zu Begriffen, daß sie
durch die Rückbildung des Geistes in Objecte einer geisti-
gen
Anschauung verwandelt, und als solche in dem gesproche-
nen Worte dem Geiste gegenübergestellt werden.“ Wissen wir
nun, warum es Becker, bewußt oder unbewußt, gefiel, Be-
grenzung durch Vollendung zu ersetzen? Wenn nur durch die
Sprache die sinnliche Anschauung zum Begriffe wird, so wird
durch sie das Denken allerdings erst vollendet; aber keineswegs
begrenzt; denn die sinnliche Anschauung hat gerade festere Ge-
staltung, bestimmtere Begrenzung als der in der Sprache aus-
gedrückte, immer allgemeine Begriff. Wir hätten also hier bei
der Anwendung des allgemeinen Begriffs Organismus auf die
Sprache etwas Unangemessenes gefunden. Durch die Sprache
wird nämlich nicht, wie sonst durch die Verleiblichung geschieht,
sinnlichere Gestaltung, festere Concretion erzeugt, sondern, ganz
im Gegentheil, Verringerung der Sinnlichkeit und wachsende
Abstraction. So hat aber Becker die Sache nicht gemeint;
sondern die sinnliche Anschauung wird durch die Selbstthätig-
keit des Geistes zum Begriff, und dieser erhält erst im Worte
Begrenzung und Gestalt; das Wort ist concreter, sinnlicher als
der Begriff. Hierauf werden wir zurückkommen. Jetzt nur die
Frage, was ist denn das für eine „Rückwirkung des Geistes“,
durch welche die sinnliche Anschauung in eine geistige verwan-

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[30/0068] sollte aus jenem Gesetze folgen? Ist denn die Sprache ein Stoff? etwas Leibliches? Gesetzt aber, dies sei, sagt denn jenes Ge- setz, daß das Leibliche nichts anderes ist, als das in ihm er- scheinende Geistige? der Stoff nichts anderes als die in ihm erscheinende Thätigkeit? der Stein z. B. ist nichts anderes als die in ihm erscheinende Bewegung? oder Wärme? das Eisen bloß der in ihm erscheinende Magnetismus? Gedanke und Spra- che sollen aber „innerlich eins und dasselbe“ sein; äußerlich nicht? und was bedeutet denn hier innerlich und äußerlich? und sind eben so Stoff und Thätigkeit innerlich eins und dasselbe? Doch weiter! „Auch erhält der Gedanke erst dadurch Gestalt und Vollendung, daß er ein gesprochener wird“ (sollte dies Wort „Vollendung“ eine versteckte Bedeutung haben? oben hieß es nur, das Geistige erhalte im Leiblichen „Begrenzung und Ge- staltung;“ soll Vollendung nichts mehr bedeuten als Begrenzung?); „denn die Objecte der sinnlichen Anschauung, welche die Verrichtung des Denkens in dem menschlichen Geiste zuerst hervorrufen, werden gerade dadurch zu Begriffen, daß sie durch die Rückbildung des Geistes in Objecte einer geisti- gen Anschauung verwandelt, und als solche in dem gesproche- nen Worte dem Geiste gegenübergestellt werden.“ Wissen wir nun, warum es Becker, bewußt oder unbewußt, gefiel, Be- grenzung durch Vollendung zu ersetzen? Wenn nur durch die Sprache die sinnliche Anschauung zum Begriffe wird, so wird durch sie das Denken allerdings erst vollendet; aber keineswegs begrenzt; denn die sinnliche Anschauung hat gerade festere Ge- staltung, bestimmtere Begrenzung als der in der Sprache aus- gedrückte, immer allgemeine Begriff. Wir hätten also hier bei der Anwendung des allgemeinen Begriffs Organismus auf die Sprache etwas Unangemessenes gefunden. Durch die Sprache wird nämlich nicht, wie sonst durch die Verleiblichung geschieht, sinnlichere Gestaltung, festere Concretion erzeugt, sondern, ganz im Gegentheil, Verringerung der Sinnlichkeit und wachsende Abstraction. So hat aber Becker die Sache nicht gemeint; sondern die sinnliche Anschauung wird durch die Selbstthätig- keit des Geistes zum Begriff, und dieser erhält erst im Worte Begrenzung und Gestalt; das Wort ist concreter, sinnlicher als der Begriff. Hierauf werden wir zurückkommen. Jetzt nur die Frage, was ist denn das für eine „Rückwirkung des Geistes“, durch welche die sinnliche Anschauung in eine geistige verwan-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/68>, abgerufen am 25.04.2024.