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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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dann ist er auch, wie die Luft vor dem Athmen ist, vor der
Schöpfung des Wortes; und hiermit sinkt also Becker in die
veraltete unorganische Anschauung zurück. Nun entsteht wieder
die Frage: wie gelangt der existirende Begriff zum lautlichen
Zeichen? Es ist also kein zufälliges Versehen, wenn Becker sagt
(S. 257): "Vermöge einer organischen Nothwendigkeit wird der
Begriff überhaupt leiblich im Laute; aber die Wahl des be-
sonderen Lautes, in welchem er leiblich wird, geschieht mit or-
ganischer Freiheit." Wenn hier Becker plötzlich aus seiner
Anschauung, wonach Laut und Begriff zusammen geboren wer-
den sollten, vollständig heraustritt, und für den vorhandenen
Begriff einen Laut wählen läßt, so thut er das, weil er mit
Nothwendigkeit aus seiner eigenen Anschauung heraus- und al-
lerdings zurückgedrängt wurde. Die ganze Anschauung aber
vom organischen Wesen der Sprache, von ihrer inneren Noth-
wendigkeit, ist hiermit aufgelöst; denn kann der Mensch für
einen Begriff einen Laut wählen, suchen, oder ist überhaupt nur
der Begriff vor dem Worte vorhanden, so könnte man ja auch
dieses Wählen unterlassen und die Bezeichnung des Begriffs
überhaupt oder die durch den Laut verschmähen. Diese Auf-
lösung seiner Ansicht mußte Becker wegen ihrer Unbestimmt-
heit erdulden. Trotz des ewig wiederholten Epitheton ornans
organisch hat er die organische Natur des Wortes und des Be-
griffs, die Nothwendigkeit jenes für die Entstehung dieses, nicht
erkannt. Wir sind seiner falschen, veralteten Ansicht, wonach
der Begriff vor dem Wort existirt, schon oben (S. 30) bei der
Betrachtung des ersten Merkmals des Organischen in der Spra-
che begegnet. Der Fehler steckt also nicht bloß im Werke
"das Wort" sondern auch im "Organism." Denn er beruht
auf der Grundbestimmung des Organismus bei Becker, wonach
dieser darin besteht, daß ein Gedanke einen Leib gewinnt, wo-
bei allemal der Gedanke vor dem Leibe gedacht wird.

§. 15. Schluß.

Nach dieser Betrachtung des Grundgedankens der Becker-
schen Sprachbetrachtung sind wir wohl schon berechtigt zu ur-
theilen, daß Becker, im anerkennenswerthen Streben nach einer
organischen Auffassungsweise der Sprache, sein Ziel so wenig
erreicht hat, daß er zunächst in eine durchaus unorganische
Anschauung verfällt, dann aber sogar in die nichtssagendste
Phrasenhaftigkeit. Wir werden dies jetzt bei der näheren Dar-

dann ist er auch, wie die Luft vor dem Athmen ist, vor der
Schöpfung des Wortes; und hiermit sinkt also Becker in die
veraltete unorganische Anschauung zurück. Nun entsteht wieder
die Frage: wie gelangt der existirende Begriff zum lautlichen
Zeichen? Es ist also kein zufälliges Versehen, wenn Becker sagt
(S. 257): „Vermöge einer organischen Nothwendigkeit wird der
Begriff überhaupt leiblich im Laute; aber die Wahl des be-
sonderen Lautes, in welchem er leiblich wird, geschieht mit or-
ganischer Freiheit.“ Wenn hier Becker plötzlich aus seiner
Anschauung, wonach Laut und Begriff zusammen geboren wer-
den sollten, vollständig heraustritt, und für den vorhandenen
Begriff einen Laut wählen läßt, so thut er das, weil er mit
Nothwendigkeit aus seiner eigenen Anschauung heraus- und al-
lerdings zurückgedrängt wurde. Die ganze Anschauung aber
vom organischen Wesen der Sprache, von ihrer inneren Noth-
wendigkeit, ist hiermit aufgelöst; denn kann der Mensch für
einen Begriff einen Laut wählen, suchen, oder ist überhaupt nur
der Begriff vor dem Worte vorhanden, so könnte man ja auch
dieses Wählen unterlassen und die Bezeichnung des Begriffs
überhaupt oder die durch den Laut verschmähen. Diese Auf-
lösung seiner Ansicht mußte Becker wegen ihrer Unbestimmt-
heit erdulden. Trotz des ewig wiederholten Epitheton ornans
organisch hat er die organische Natur des Wortes und des Be-
griffs, die Nothwendigkeit jenes für die Entstehung dieses, nicht
erkannt. Wir sind seiner falschen, veralteten Ansicht, wonach
der Begriff vor dem Wort existirt, schon oben (S. 30) bei der
Betrachtung des ersten Merkmals des Organischen in der Spra-
che begegnet. Der Fehler steckt also nicht bloß im Werke
„das Wort“ sondern auch im „Organism.“ Denn er beruht
auf der Grundbestimmung des Organismus bei Becker, wonach
dieser darin besteht, daß ein Gedanke einen Leib gewinnt, wo-
bei allemal der Gedanke vor dem Leibe gedacht wird.

§. 15. Schluß.

Nach dieser Betrachtung des Grundgedankens der Becker-
schen Sprachbetrachtung sind wir wohl schon berechtigt zu ur-
theilen, daß Becker, im anerkennenswerthen Streben nach einer
organischen Auffassungsweise der Sprache, sein Ziel so wenig
erreicht hat, daß er zunächst in eine durchaus unorganische
Anschauung verfällt, dann aber sogar in die nichtssagendste
Phrasenhaftigkeit. Wir werden dies jetzt bei der näheren Dar-

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[40/0078] dann ist er auch, wie die Luft vor dem Athmen ist, vor der Schöpfung des Wortes; und hiermit sinkt also Becker in die veraltete unorganische Anschauung zurück. Nun entsteht wieder die Frage: wie gelangt der existirende Begriff zum lautlichen Zeichen? Es ist also kein zufälliges Versehen, wenn Becker sagt (S. 257): „Vermöge einer organischen Nothwendigkeit wird der Begriff überhaupt leiblich im Laute; aber die Wahl des be- sonderen Lautes, in welchem er leiblich wird, geschieht mit or- ganischer Freiheit.“ Wenn hier Becker plötzlich aus seiner Anschauung, wonach Laut und Begriff zusammen geboren wer- den sollten, vollständig heraustritt, und für den vorhandenen Begriff einen Laut wählen läßt, so thut er das, weil er mit Nothwendigkeit aus seiner eigenen Anschauung heraus- und al- lerdings zurückgedrängt wurde. Die ganze Anschauung aber vom organischen Wesen der Sprache, von ihrer inneren Noth- wendigkeit, ist hiermit aufgelöst; denn kann der Mensch für einen Begriff einen Laut wählen, suchen, oder ist überhaupt nur der Begriff vor dem Worte vorhanden, so könnte man ja auch dieses Wählen unterlassen und die Bezeichnung des Begriffs überhaupt oder die durch den Laut verschmähen. Diese Auf- lösung seiner Ansicht mußte Becker wegen ihrer Unbestimmt- heit erdulden. Trotz des ewig wiederholten Epitheton ornans organisch hat er die organische Natur des Wortes und des Be- griffs, die Nothwendigkeit jenes für die Entstehung dieses, nicht erkannt. Wir sind seiner falschen, veralteten Ansicht, wonach der Begriff vor dem Wort existirt, schon oben (S. 30) bei der Betrachtung des ersten Merkmals des Organischen in der Spra- che begegnet. Der Fehler steckt also nicht bloß im Werke „das Wort“ sondern auch im „Organism.“ Denn er beruht auf der Grundbestimmung des Organismus bei Becker, wonach dieser darin besteht, daß ein Gedanke einen Leib gewinnt, wo- bei allemal der Gedanke vor dem Leibe gedacht wird. §. 15. Schluß. Nach dieser Betrachtung des Grundgedankens der Becker- schen Sprachbetrachtung sind wir wohl schon berechtigt zu ur- theilen, daß Becker, im anerkennenswerthen Streben nach einer organischen Auffassungsweise der Sprache, sein Ziel so wenig erreicht hat, daß er zunächst in eine durchaus unorganische Anschauung verfällt, dann aber sogar in die nichtssagendste Phrasenhaftigkeit. Wir werden dies jetzt bei der näheren Dar-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/78>, abgerufen am 28.03.2024.