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Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846.

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etwa nach Belluno oder Feltre, so müssen sie sich gerade so gut wie die Grödner und Enneberger Tedeschi nennen lassen; ein Schicksal, das auch jedes Trientiners wartet, der nach Verona kommt. Ihre Sprache bildet den Uebergang aus den ladinischen Dialekten in jene Mundarten, die man dem Italienischen zurechnet, wie z. B. den Dialekt von Fleims oder den von Belluno, und insofern steht sie in gleicher Linie mit dem Idiome von Ampezzo, das gegen Aufgang an der neuen Straße von Pusterthal nach Italien liegt.

Nach dieser Vorbereitung nähern wir uns dem Dorfe Andraz, über hügeliges, seltsam verdrehtes Land, aus dessen Feldern noch manches Felsstück aufragt, das ein Castel d'Andraz tragen könnte. Die Leute waren mit der Roggenernte beschäftigt, denn das Klima ist hier bei weitem nicht so rauh, wie enthalb des Joches in der Abtei. Das Dörfchen durchwandelnd betrachtete ich mit vielem Interesse, obgleich nur der Race wegen, die Mädchen, die an den Brunnen heute zahlreich wuschen und bemerkte darunter manches blondhaarige Köpfchen und einmal unter einer Hausthüre drei Stumpfnäschen beisammen, wie man sie nur in Deutschland zu sehen gewohnt ist. Die Wohnhäuser unterscheiden sich nicht merklich von den in deutschen Thälern üblichen und sind zum Theil von Stein, zum Theil von Holz.

Von Andraz geht der Weg hoch am Tobel hin, mit einer herrlichen Ansicht der Giuitta, eines ehrwürdigen Schrofens, der zerrissen und zerklüftet im Thale links emporsteigt, fast symmetrisch von beiden Seiten zur schöngestalteten Spitze hinaufziehend. Zu seinen Füßen liegt tief im hintersten Winkel des Thales der See von Alleghe, hellgrün hervorblitzend zwischen dunkeln Wäldern. Zur rechten Seite dagegen fängt ein Ferner an aufzutauchen und entfaltet sich bald in voller Pracht. Es ist die Marmolata, links von der Etsch der südlichste der tirolischen Gletscher. Darauf ist vor vierzig Jahren ein Geistlicher mit seinem Hündchen in eine Eisspalte gefallen und nicht wieder, weder todt noch lebendig, ans Tageslicht gekommen. Er liegt noch steif gefroren unten in der unterirdischen, eisigen, blauen Todtenkammer, und die verborgenen

etwa nach Belluno oder Feltre, so müssen sie sich gerade so gut wie die Grödner und Enneberger Tedeschi nennen lassen; ein Schicksal, das auch jedes Trientiners wartet, der nach Verona kommt. Ihre Sprache bildet den Uebergang aus den ladinischen Dialekten in jene Mundarten, die man dem Italienischen zurechnet, wie z. B. den Dialekt von Fleims oder den von Belluno, und insofern steht sie in gleicher Linie mit dem Idiome von Ampezzo, das gegen Aufgang an der neuen Straße von Pusterthal nach Italien liegt.

Nach dieser Vorbereitung nähern wir uns dem Dorfe Andraz, über hügeliges, seltsam verdrehtes Land, aus dessen Feldern noch manches Felsstück aufragt, das ein Castel d'Andraz tragen könnte. Die Leute waren mit der Roggenernte beschäftigt, denn das Klima ist hier bei weitem nicht so rauh, wie enthalb des Joches in der Abtei. Das Dörfchen durchwandelnd betrachtete ich mit vielem Interesse, obgleich nur der Race wegen, die Mädchen, die an den Brunnen heute zahlreich wuschen und bemerkte darunter manches blondhaarige Köpfchen und einmal unter einer Hausthüre drei Stumpfnäschen beisammen, wie man sie nur in Deutschland zu sehen gewohnt ist. Die Wohnhäuser unterscheiden sich nicht merklich von den in deutschen Thälern üblichen und sind zum Theil von Stein, zum Theil von Holz.

Von Andraz geht der Weg hoch am Tobel hin, mit einer herrlichen Ansicht der Giuitta, eines ehrwürdigen Schrofens, der zerrissen und zerklüftet im Thale links emporsteigt, fast symmetrisch von beiden Seiten zur schöngestalteten Spitze hinaufziehend. Zu seinen Füßen liegt tief im hintersten Winkel des Thales der See von Alleghe, hellgrün hervorblitzend zwischen dunkeln Wäldern. Zur rechten Seite dagegen fängt ein Ferner an aufzutauchen und entfaltet sich bald in voller Pracht. Es ist die Marmolata, links von der Etsch der südlichste der tirolischen Gletscher. Darauf ist vor vierzig Jahren ein Geistlicher mit seinem Hündchen in eine Eisspalte gefallen und nicht wieder, weder todt noch lebendig, ans Tageslicht gekommen. Er liegt noch steif gefroren unten in der unterirdischen, eisigen, blauen Todtenkammer, und die verborgenen

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[476/0480] etwa nach Belluno oder Feltre, so müssen sie sich gerade so gut wie die Grödner und Enneberger Tedeschi nennen lassen; ein Schicksal, das auch jedes Trientiners wartet, der nach Verona kommt. Ihre Sprache bildet den Uebergang aus den ladinischen Dialekten in jene Mundarten, die man dem Italienischen zurechnet, wie z. B. den Dialekt von Fleims oder den von Belluno, und insofern steht sie in gleicher Linie mit dem Idiome von Ampezzo, das gegen Aufgang an der neuen Straße von Pusterthal nach Italien liegt. Nach dieser Vorbereitung nähern wir uns dem Dorfe Andraz, über hügeliges, seltsam verdrehtes Land, aus dessen Feldern noch manches Felsstück aufragt, das ein Castel d'Andraz tragen könnte. Die Leute waren mit der Roggenernte beschäftigt, denn das Klima ist hier bei weitem nicht so rauh, wie enthalb des Joches in der Abtei. Das Dörfchen durchwandelnd betrachtete ich mit vielem Interesse, obgleich nur der Race wegen, die Mädchen, die an den Brunnen heute zahlreich wuschen und bemerkte darunter manches blondhaarige Köpfchen und einmal unter einer Hausthüre drei Stumpfnäschen beisammen, wie man sie nur in Deutschland zu sehen gewohnt ist. Die Wohnhäuser unterscheiden sich nicht merklich von den in deutschen Thälern üblichen und sind zum Theil von Stein, zum Theil von Holz. Von Andraz geht der Weg hoch am Tobel hin, mit einer herrlichen Ansicht der Giuitta, eines ehrwürdigen Schrofens, der zerrissen und zerklüftet im Thale links emporsteigt, fast symmetrisch von beiden Seiten zur schöngestalteten Spitze hinaufziehend. Zu seinen Füßen liegt tief im hintersten Winkel des Thales der See von Alleghe, hellgrün hervorblitzend zwischen dunkeln Wäldern. Zur rechten Seite dagegen fängt ein Ferner an aufzutauchen und entfaltet sich bald in voller Pracht. Es ist die Marmolata, links von der Etsch der südlichste der tirolischen Gletscher. Darauf ist vor vierzig Jahren ein Geistlicher mit seinem Hündchen in eine Eisspalte gefallen und nicht wieder, weder todt noch lebendig, ans Tageslicht gekommen. Er liegt noch steif gefroren unten in der unterirdischen, eisigen, blauen Todtenkammer, und die verborgenen

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Zitationshilfe: Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/480>, abgerufen am 29.03.2024.