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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857.

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Ich dankte, und entfernte mich. Nach meiner Kennt¬
niß der Tageintheilung wußte ich, daß er seine Be¬
schäftigung mit Gustav fortsezte.

Ich ging zuerst auf die Marmortreppe. Ich suchte
sie von oben zu gewinnen. Als ich von dem gemein¬
schaftlichen Gange in den oberen Theil des Marmor¬
ganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorge¬
schrieben war, Filzschuhe, welche immer in Bereit¬
schaft standen, an, und ging die glatte schöne Treppe
hinunter. Als ich in die Mitte derselben gekommen
war, wo sich der breite Absaz befindet, hielt ich an;
denn das war das Ziel meiner Wanderung gewesen.
Ich wollte die alterthümliche Marmorgestalt betrach¬
ten. Selbst heute in dem bleiernen Lichte, das durch
die Glaswölbung, welche noch dazu durch das auf
ihr rinnende Wasser getrübt war, gleichsam träge
nieder fiel, war die Erscheinung eine gewaltige und
erhebende. Die hehre Jungfrau, sonst immer sanft
und hoch, stand heute in den flüssigen Schleiern des
dumpferen Lichtes zwar trüb aber mild da, und der
Ernst des Tages legte sich auch als Ernst auf ihre
unaussprechlich anmuthigen Glieder. Ich sah die Ge¬
stalt lange an, sie war mir wie bei jedem erneuerten
Anblicke wieder neu. Wie sehr mir auch die blendend

Ich dankte, und entfernte mich. Nach meiner Kennt¬
niß der Tageintheilung wußte ich, daß er ſeine Be¬
ſchäftigung mit Guſtav fortſezte.

Ich ging zuerſt auf die Marmortreppe. Ich ſuchte
ſie von oben zu gewinnen. Als ich von dem gemein¬
ſchaftlichen Gange in den oberen Theil des Marmor¬
ganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorge¬
ſchrieben war, Filzſchuhe, welche immer in Bereit¬
ſchaft ſtanden, an, und ging die glatte ſchöne Treppe
hinunter. Als ich in die Mitte derſelben gekommen
war, wo ſich der breite Abſaz befindet, hielt ich an;
denn das war das Ziel meiner Wanderung geweſen.
Ich wollte die alterthümliche Marmorgeſtalt betrach¬
ten. Selbſt heute in dem bleiernen Lichte, das durch
die Glaswölbung, welche noch dazu durch das auf
ihr rinnende Waſſer getrübt war, gleichſam träge
nieder fiel, war die Erſcheinung eine gewaltige und
erhebende. Die hehre Jungfrau, ſonſt immer ſanft
und hoch, ſtand heute in den flüſſigen Schleiern des
dumpferen Lichtes zwar trüb aber mild da, und der
Ernſt des Tages legte ſich auch als Ernſt auf ihre
unausſprechlich anmuthigen Glieder. Ich ſah die Ge¬
ſtalt lange an, ſie war mir wie bei jedem erneuerten
Anblicke wieder neu. Wie ſehr mir auch die blendend

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[192/0206] Ich dankte, und entfernte mich. Nach meiner Kennt¬ niß der Tageintheilung wußte ich, daß er ſeine Be¬ ſchäftigung mit Guſtav fortſezte. Ich ging zuerſt auf die Marmortreppe. Ich ſuchte ſie von oben zu gewinnen. Als ich von dem gemein¬ ſchaftlichen Gange in den oberen Theil des Marmor¬ ganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorge¬ ſchrieben war, Filzſchuhe, welche immer in Bereit¬ ſchaft ſtanden, an, und ging die glatte ſchöne Treppe hinunter. Als ich in die Mitte derſelben gekommen war, wo ſich der breite Abſaz befindet, hielt ich an; denn das war das Ziel meiner Wanderung geweſen. Ich wollte die alterthümliche Marmorgeſtalt betrach¬ ten. Selbſt heute in dem bleiernen Lichte, das durch die Glaswölbung, welche noch dazu durch das auf ihr rinnende Waſſer getrübt war, gleichſam träge nieder fiel, war die Erſcheinung eine gewaltige und erhebende. Die hehre Jungfrau, ſonſt immer ſanft und hoch, ſtand heute in den flüſſigen Schleiern des dumpferen Lichtes zwar trüb aber mild da, und der Ernſt des Tages legte ſich auch als Ernſt auf ihre unausſprechlich anmuthigen Glieder. Ich ſah die Ge¬ ſtalt lange an, ſie war mir wie bei jedem erneuerten Anblicke wieder neu. Wie ſehr mir auch die blendend

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/206>, abgerufen am 28.03.2024.