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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857.

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nete, zu melden und mich zu entschuldigen, daß ich
ohne Abschied abreise. Hierauf ging ich auf die Post,
und ließ mich einschreiben. Zwei Stunden darnach
saß ich schon in dem Wagen, und obwohl wir in der
Nacht wie am Tage fuhren, obwohl ich von der lezten
Post aus, an der der Weg nach meiner Heimath ab¬
lenkte, eigene Pferde nahm, und mittelst Wechsels
derselben unaufhörlich fortfuhr, so kam ich doch zu
spät, um die irdische Hülle meiner Mutter noch ein¬
mal sehen zu können. Sie ruhte bereits im Grabe.
Nur in ihren Kleidern in Geräthen im Arbeitszeuge,
das auf ihrem Tischchen lag, sah ich die Spuren ihres
Daseins. Ich warf mich in eine Lehnbank, und wollte
in Thränen vergehen. Es war der erste große Verlust,
den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des Vaters
war ich zu jung gewesen, um ihn recht empfinden zu
können. Obwohl der erste Schmerz unsäglich heiß
gewesen war, und ich geglaubt hatte, ihn nicht über¬
leben zu können, so verminderte er sich wider meinen
Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem
Schatten wurde, und ich mir nach Verlauf von eini¬
gen Jahren keine Vorstellung mehr von dem Vater
machen konnte. Jezt war es anders. Ich hatte mich
daran gewöhnt, die Mutter als das Bild der größten

nete, zu melden und mich zu entſchuldigen, daß ich
ohne Abſchied abreiſe. Hierauf ging ich auf die Poſt,
und ließ mich einſchreiben. Zwei Stunden darnach
ſaß ich ſchon in dem Wagen, und obwohl wir in der
Nacht wie am Tage fuhren, obwohl ich von der lezten
Poſt aus, an der der Weg nach meiner Heimath ab¬
lenkte, eigene Pferde nahm, und mittelſt Wechſels
derſelben unaufhörlich fortfuhr, ſo kam ich doch zu
ſpät, um die irdiſche Hülle meiner Mutter noch ein¬
mal ſehen zu können. Sie ruhte bereits im Grabe.
Nur in ihren Kleidern in Geräthen im Arbeitszeuge,
das auf ihrem Tiſchchen lag, ſah ich die Spuren ihres
Daſeins. Ich warf mich in eine Lehnbank, und wollte
in Thränen vergehen. Es war der erſte große Verluſt,
den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des Vaters
war ich zu jung geweſen, um ihn recht empfinden zu
können. Obwohl der erſte Schmerz unſäglich heiß
geweſen war, und ich geglaubt hatte, ihn nicht über¬
leben zu können, ſo verminderte er ſich wider meinen
Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem
Schatten wurde, und ich mir nach Verlauf von eini¬
gen Jahren keine Vorſtellung mehr von dem Vater
machen konnte. Jezt war es anders. Ich hatte mich
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[246/0260] nete, zu melden und mich zu entſchuldigen, daß ich ohne Abſchied abreiſe. Hierauf ging ich auf die Poſt, und ließ mich einſchreiben. Zwei Stunden darnach ſaß ich ſchon in dem Wagen, und obwohl wir in der Nacht wie am Tage fuhren, obwohl ich von der lezten Poſt aus, an der der Weg nach meiner Heimath ab¬ lenkte, eigene Pferde nahm, und mittelſt Wechſels derſelben unaufhörlich fortfuhr, ſo kam ich doch zu ſpät, um die irdiſche Hülle meiner Mutter noch ein¬ mal ſehen zu können. Sie ruhte bereits im Grabe. Nur in ihren Kleidern in Geräthen im Arbeitszeuge, das auf ihrem Tiſchchen lag, ſah ich die Spuren ihres Daſeins. Ich warf mich in eine Lehnbank, und wollte in Thränen vergehen. Es war der erſte große Verluſt, den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des Vaters war ich zu jung geweſen, um ihn recht empfinden zu können. Obwohl der erſte Schmerz unſäglich heiß geweſen war, und ich geglaubt hatte, ihn nicht über¬ leben zu können, ſo verminderte er ſich wider meinen Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem Schatten wurde, und ich mir nach Verlauf von eini¬ gen Jahren keine Vorſtellung mehr von dem Vater machen konnte. Jezt war es anders. Ich hatte mich daran gewöhnt, die Mutter als das Bild der größten

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/260>, abgerufen am 19.04.2024.