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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857.

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"Ich hege keinen Zweifel, daß es nicht so ist,"
erwiederte mein Gastfreund, "wenn der Mensch über¬
haupt seine ihm angeborne Anlage nicht kennt, selbst
wenn sie eine sehr bedeutende sein sollte, und wenn er
manigfaltige Handlungen vornehmen muß, ehe seine
Umgebung ihn oder er sich selber inne wird, ja wenn
er zulezt sich seiner Freiheit gemäß seiner Anlage hin¬
geben oder sich von ihr abwenden kann: so wird er
wohl im Wirken dieser Anlage nicht so zu rechnen im
Stande sein, daß sie an einem gewissen Punkte an¬
landen müsse; sondern je größer die Kraft ist, um so
mehr glaube ich, wirkt sie nach den ihr eigenthümlichen
Gesezen, und das dem Menschen inwohnende Große
strebt unbewußt der Äußerlichkeiten seinem Ziele zu,
und erreicht desto Wirkungsvolleres, je tiefer und un¬
beirrter es strebt. Das Göttliche scheint immer nur
von dem Himmel zu fallen. Es hat wohl Menschen ge¬
geben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugniß auf
die Mitmenschen wirken soll, die Wirkung ist auch
gekommen, sie ist oft eine große gewesen, aber keine
künstlerische und keine tiefe; sie haben etwas anderes
erreicht, das ein Zufälliges und Äußeres war, das
die, welche nach ihnen kamen, nicht theilten, und von
dem sie nicht begriefen, wie es auf die Vorgänger

„Ich hege keinen Zweifel, daß es nicht ſo iſt,“
erwiederte mein Gaſtfreund, „wenn der Menſch über¬
haupt ſeine ihm angeborne Anlage nicht kennt, ſelbſt
wenn ſie eine ſehr bedeutende ſein ſollte, und wenn er
manigfaltige Handlungen vornehmen muß, ehe ſeine
Umgebung ihn oder er ſich ſelber inne wird, ja wenn
er zulezt ſich ſeiner Freiheit gemäß ſeiner Anlage hin¬
geben oder ſich von ihr abwenden kann: ſo wird er
wohl im Wirken dieſer Anlage nicht ſo zu rechnen im
Stande ſein, daß ſie an einem gewiſſen Punkte an¬
landen müſſe; ſondern je größer die Kraft iſt, um ſo
mehr glaube ich, wirkt ſie nach den ihr eigenthümlichen
Geſezen, und das dem Menſchen inwohnende Große
ſtrebt unbewußt der Äußerlichkeiten ſeinem Ziele zu,
und erreicht deſto Wirkungsvolleres, je tiefer und un¬
beirrter es ſtrebt. Das Göttliche ſcheint immer nur
von dem Himmel zu fallen. Es hat wohl Menſchen ge¬
geben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugniß auf
die Mitmenſchen wirken ſoll, die Wirkung iſt auch
gekommen, ſie iſt oft eine große geweſen, aber keine
künſtleriſche und keine tiefe; ſie haben etwas anderes
erreicht, das ein Zufälliges und Äußeres war, das
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[84/0098] „Ich hege keinen Zweifel, daß es nicht ſo iſt,“ erwiederte mein Gaſtfreund, „wenn der Menſch über¬ haupt ſeine ihm angeborne Anlage nicht kennt, ſelbſt wenn ſie eine ſehr bedeutende ſein ſollte, und wenn er manigfaltige Handlungen vornehmen muß, ehe ſeine Umgebung ihn oder er ſich ſelber inne wird, ja wenn er zulezt ſich ſeiner Freiheit gemäß ſeiner Anlage hin¬ geben oder ſich von ihr abwenden kann: ſo wird er wohl im Wirken dieſer Anlage nicht ſo zu rechnen im Stande ſein, daß ſie an einem gewiſſen Punkte an¬ landen müſſe; ſondern je größer die Kraft iſt, um ſo mehr glaube ich, wirkt ſie nach den ihr eigenthümlichen Geſezen, und das dem Menſchen inwohnende Große ſtrebt unbewußt der Äußerlichkeiten ſeinem Ziele zu, und erreicht deſto Wirkungsvolleres, je tiefer und un¬ beirrter es ſtrebt. Das Göttliche ſcheint immer nur von dem Himmel zu fallen. Es hat wohl Menſchen ge¬ geben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugniß auf die Mitmenſchen wirken ſoll, die Wirkung iſt auch gekommen, ſie iſt oft eine große geweſen, aber keine künſtleriſche und keine tiefe; ſie haben etwas anderes erreicht, das ein Zufälliges und Äußeres war, das die, welche nach ihnen kamen, nicht theilten, und von dem ſie nicht begriefen, wie es auf die Vorgänger

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/98>, abgerufen am 19.04.2024.