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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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es wohl, daß die gegebene (octroyirte) Freiheit doch keine Frei¬
heit ist, da nur die Freiheit, die man sich nimmt, also die
Freiheit des Egoisten, mit vollen Segeln schifft. Geschenkte
Freiheit streicht sogleich die Segel, sobald Sturm oder --
Windstille eintritt: sie muß immer -- gelinde und mittelmäßig
angeblasen werden.

Hier liegt der Unterschied zwischen Selbstbefreiung und
Emancipation (Freisprechung, Freilassung). Wer heutigen Ta¬
ges "in der Opposition steht", der lechzt und schreit nach
"Freilassung". Die Fürsten sollen ihre Völker für "mündig
erklären" d. h. emancipiren! Betragt Euch als mündig, so
seid Ihr's ohne jene Mündigsprechung, und betragt Ihr Euch
nicht darnach, so seid Ihr's nicht werth, und wäret auch durch
Mündigsprechung nimmermehr mündig. Die mündigen Grie¬
chen jagten ihre Tyrannen fort, und der mündige Sohn macht
sich vom Vater unabhängig. Hätten jene gewartet, bis ihre
Tyrannen ihnen die Mündigkeit gnädigst bewilligten: sie konnten
lange warten. Den Sohn, der nicht mündig werden will,
wirft ein verständiger Vater aus dem Hause und behält das
Haus allein; dem Lassen geschieht Recht.

Der Freigegebene ist eben nichts als ein Freigelassener,
ein libertinus, ein Hund, der ein Stück Kette mitschleppt: er
ist ein Unfreier im Gewande der Freiheit, wie der Esel in der
Löwenhaut. Emancipirte Juden sind um nichts gebessert in
sich, sondern nur erleichtert als Juden, obgleich, wer ihren
Zustand erleichtert, allerdings mehr ist als ein kirchlicher Christ,
da der Letztere dieß nicht ohne Inconsequenz vermag. Aber
emancipirter Jude oder nicht emancipirter: Jude bleibt Jude;
der Nicht-Selbstbefreite ist eben ein -- Emancipirter. Der
protestantische Staat vermag allerdings die Katholiken freizu¬

es wohl, daß die gegebene (octroyirte) Freiheit doch keine Frei¬
heit iſt, da nur die Freiheit, die man ſich nimmt, alſo die
Freiheit des Egoiſten, mit vollen Segeln ſchifft. Geſchenkte
Freiheit ſtreicht ſogleich die Segel, ſobald Sturm oder —
Windſtille eintritt: ſie muß immer — gelinde und mittelmäßig
angeblaſen werden.

Hier liegt der Unterſchied zwiſchen Selbſtbefreiung und
Emancipation (Freiſprechung, Freilaſſung). Wer heutigen Ta¬
ges „in der Oppoſition ſteht“, der lechzt und ſchreit nach
„Freilaſſung“. Die Fürſten ſollen ihre Völker für „mündig
erklären“ d. h. emancipiren! Betragt Euch als mündig, ſo
ſeid Ihr's ohne jene Mündigſprechung, und betragt Ihr Euch
nicht darnach, ſo ſeid Ihr's nicht werth, und wäret auch durch
Mündigſprechung nimmermehr mündig. Die mündigen Grie¬
chen jagten ihre Tyrannen fort, und der mündige Sohn macht
ſich vom Vater unabhängig. Hätten jene gewartet, bis ihre
Tyrannen ihnen die Mündigkeit gnädigſt bewilligten: ſie konnten
lange warten. Den Sohn, der nicht mündig werden will,
wirft ein verſtändiger Vater aus dem Hauſe und behält das
Haus allein; dem Laſſen geſchieht Recht.

Der Freigegebene iſt eben nichts als ein Freigelaſſener,
ein libertinus, ein Hund, der ein Stück Kette mitſchleppt: er
iſt ein Unfreier im Gewande der Freiheit, wie der Eſel in der
Löwenhaut. Emancipirte Juden ſind um nichts gebeſſert in
ſich, ſondern nur erleichtert als Juden, obgleich, wer ihren
Zuſtand erleichtert, allerdings mehr iſt als ein kirchlicher Chriſt,
da der Letztere dieß nicht ohne Inconſequenz vermag. Aber
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der Nicht-Selbſtbefreite iſt eben ein — Emancipirter. Der
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[221/0229] es wohl, daß die gegebene (octroyirte) Freiheit doch keine Frei¬ heit iſt, da nur die Freiheit, die man ſich nimmt, alſo die Freiheit des Egoiſten, mit vollen Segeln ſchifft. Geſchenkte Freiheit ſtreicht ſogleich die Segel, ſobald Sturm oder — Windſtille eintritt: ſie muß immer — gelinde und mittelmäßig angeblaſen werden. Hier liegt der Unterſchied zwiſchen Selbſtbefreiung und Emancipation (Freiſprechung, Freilaſſung). Wer heutigen Ta¬ ges „in der Oppoſition ſteht“, der lechzt und ſchreit nach „Freilaſſung“. Die Fürſten ſollen ihre Völker für „mündig erklären“ d. h. emancipiren! Betragt Euch als mündig, ſo ſeid Ihr's ohne jene Mündigſprechung, und betragt Ihr Euch nicht darnach, ſo ſeid Ihr's nicht werth, und wäret auch durch Mündigſprechung nimmermehr mündig. Die mündigen Grie¬ chen jagten ihre Tyrannen fort, und der mündige Sohn macht ſich vom Vater unabhängig. Hätten jene gewartet, bis ihre Tyrannen ihnen die Mündigkeit gnädigſt bewilligten: ſie konnten lange warten. Den Sohn, der nicht mündig werden will, wirft ein verſtändiger Vater aus dem Hauſe und behält das Haus allein; dem Laſſen geſchieht Recht. Der Freigegebene iſt eben nichts als ein Freigelaſſener, ein libertinus, ein Hund, der ein Stück Kette mitſchleppt: er iſt ein Unfreier im Gewande der Freiheit, wie der Eſel in der Löwenhaut. Emancipirte Juden ſind um nichts gebeſſert in ſich, ſondern nur erleichtert als Juden, obgleich, wer ihren Zuſtand erleichtert, allerdings mehr iſt als ein kirchlicher Chriſt, da der Letztere dieß nicht ohne Inconſequenz vermag. Aber emancipirter Jude oder nicht emancipirter: Jude bleibt Jude; der Nicht-Selbſtbefreite iſt eben ein — Emancipirter. Der proteſtantiſche Staat vermag allerdings die Katholiken freizu¬

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/229>, abgerufen am 25.04.2024.