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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Nun haben Wir aber an den Alten Anhänger der Idee,
an den Neuen Anhänger der Realität vor Uns. Beide kom¬
men von dem Gegensatze nicht los und schmachten nur, die
Einen nach dem Geiste, und als dieser Drang der alten Welt
befriedigt und dieser Geist gekommen zu sein schien, die An¬
dern sogleich wieder nach der Verweltlichung dieses Geistes,
die für immer ein "frommer Wunsch" bleiben muß.

Der fromme Wunsch der Alten war die Heiligkeit, der
fromme Wunsch der Neuen ist die Leibhaftigkeit. Wie
aber das Alterthum untergehen mußte, wenn seine Sehnsucht
befriedigt werden sollte (denn es bestand nur in der Sehnsucht),
so kann es auch innerhalb des Ringes der Christlichkeit nim¬
mermehr zur Leibhaftigkeit kommen. Wie der Zug der Hei¬
ligung oder Reinigung durch die alte Welt geht (die Waschun¬
gen u. s. w.), so geht der der Verleiblichung durch die christ¬
liche: der Gott stürzt sich in diese Welt, wird Fleisch und will
sie erlösen, d. h. mit sich erfüllen; da er aber "die Idee" oder
"der Geist" ist, so führt man (z. B. Hegel) am Schlusse die
Idee in Alles, in die Welt, ein und beweist, "daß die Idee,
daß Vernunft in Allem sei". Dem, was die heidnischen
Stoiker als "den Weisen" aufstellten, entspricht in der heuti¬
gen Bildung "der Mensch", jener wie dieser ein -- fleisch¬
loses
Wesen. Der unwirkliche "Weise", dieser leiblose "Hei¬
lige" der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher
"Heiliger" in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirk¬
liche "Mensch", das leiblose Ich, wird wirklich werden im
leibhaftigen Ich, in Mir.

Durch das Christenthum schlingt sich die Frage nach dem
"Dasein Gottes" hindurch, die, immer und immer wieder auf¬
genommen, Zeugniß dafür ablegt, daß der Drang nach dem

Nun haben Wir aber an den Alten Anhänger der Idee,
an den Neuen Anhänger der Realität vor Uns. Beide kom¬
men von dem Gegenſatze nicht los und ſchmachten nur, die
Einen nach dem Geiſte, und als dieſer Drang der alten Welt
befriedigt und dieſer Geiſt gekommen zu ſein ſchien, die An¬
dern ſogleich wieder nach der Verweltlichung dieſes Geiſtes,
die für immer ein „frommer Wunſch“ bleiben muß.

Der fromme Wunſch der Alten war die Heiligkeit, der
fromme Wunſch der Neuen iſt die Leibhaftigkeit. Wie
aber das Alterthum untergehen mußte, wenn ſeine Sehnſucht
befriedigt werden ſollte (denn es beſtand nur in der Sehnſucht),
ſo kann es auch innerhalb des Ringes der Chriſtlichkeit nim¬
mermehr zur Leibhaftigkeit kommen. Wie der Zug der Hei¬
ligung oder Reinigung durch die alte Welt geht (die Waſchun¬
gen u. ſ. w.), ſo geht der der Verleiblichung durch die chriſt¬
liche: der Gott ſtürzt ſich in dieſe Welt, wird Fleiſch und will
ſie erlöſen, d. h. mit ſich erfüllen; da er aber „die Idee“ oder
„der Geiſt“ iſt, ſo führt man (z. B. Hegel) am Schluſſe die
Idee in Alles, in die Welt, ein und beweiſt, „daß die Idee,
daß Vernunft in Allem ſei“. Dem, was die heidniſchen
Stoiker als „den Weiſen“ aufſtellten, entſpricht in der heuti¬
gen Bildung „der Menſch“, jener wie dieſer ein — fleiſch¬
loſes
Weſen. Der unwirkliche „Weiſe“, dieſer leibloſe „Hei¬
lige“ der Stoiker, wurde eine wirkliche Perſon, ein leiblicher
„Heiliger“ in dem fleiſchgewordenen Gotte; der unwirk¬
liche „Menſch“, das leibloſe Ich, wird wirklich werden im
leibhaftigen Ich, in Mir.

Durch das Chriſtenthum ſchlingt ſich die Frage nach dem
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[486/0494] Nun haben Wir aber an den Alten Anhänger der Idee, an den Neuen Anhänger der Realität vor Uns. Beide kom¬ men von dem Gegenſatze nicht los und ſchmachten nur, die Einen nach dem Geiſte, und als dieſer Drang der alten Welt befriedigt und dieſer Geiſt gekommen zu ſein ſchien, die An¬ dern ſogleich wieder nach der Verweltlichung dieſes Geiſtes, die für immer ein „frommer Wunſch“ bleiben muß. Der fromme Wunſch der Alten war die Heiligkeit, der fromme Wunſch der Neuen iſt die Leibhaftigkeit. Wie aber das Alterthum untergehen mußte, wenn ſeine Sehnſucht befriedigt werden ſollte (denn es beſtand nur in der Sehnſucht), ſo kann es auch innerhalb des Ringes der Chriſtlichkeit nim¬ mermehr zur Leibhaftigkeit kommen. Wie der Zug der Hei¬ ligung oder Reinigung durch die alte Welt geht (die Waſchun¬ gen u. ſ. w.), ſo geht der der Verleiblichung durch die chriſt¬ liche: der Gott ſtürzt ſich in dieſe Welt, wird Fleiſch und will ſie erlöſen, d. h. mit ſich erfüllen; da er aber „die Idee“ oder „der Geiſt“ iſt, ſo führt man (z. B. Hegel) am Schluſſe die Idee in Alles, in die Welt, ein und beweiſt, „daß die Idee, daß Vernunft in Allem ſei“. Dem, was die heidniſchen Stoiker als „den Weiſen“ aufſtellten, entſpricht in der heuti¬ gen Bildung „der Menſch“, jener wie dieſer ein — fleiſch¬ loſes Weſen. Der unwirkliche „Weiſe“, dieſer leibloſe „Hei¬ lige“ der Stoiker, wurde eine wirkliche Perſon, ein leiblicher „Heiliger“ in dem fleiſchgewordenen Gotte; der unwirk¬ liche „Menſch“, das leibloſe Ich, wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in Mir. Durch das Chriſtenthum ſchlingt ſich die Frage nach dem „Daſein Gottes“ hindurch, die, immer und immer wieder auf¬ genommen, Zeugniß dafür ablegt, daß der Drang nach dem

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/494>, abgerufen am 18.04.2024.