Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Mensch" ein höheres Wesen als ein einzelner Mensch, und
werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die sich aus seinem
Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieses Begriffes
verehrt und -- heilig gehalten werden müssen? Denn sollte
man auch manche Wahrheit, welche durch diesen Begriff mani¬
festirt zu sein schien, wieder abschaffen, so zeugte dieß doch
allein für ein Mißverständniß von unserer Seite, ohne im Ge¬
ringsten dem heiligen Begriffe selbst Eintrag zu thun oder den¬
jenigen Wahrheiten, welche "mit Recht" als Offenbarungen
desselben angesehen werden müssen, ihre Heiligkeit zu nehmen.
Der Mensch greift über jeden einzelnen Menschen hinaus und
ist, obgleich "sein Wesen", in der That doch nicht sein We¬
sen, welches vielmehr so einzig wäre als er, der Einzelne, sel¬
ber, sondern ein allgemeines und "höheres", ja für die Athe¬
isten "das höchste Wesen". Und wie die göttlichen Offenba¬
rungen nicht von Gott eigenhändig niedergeschrieben, sondern
durch die "Rüstzeuge des Herrn" veröffentlicht wurden, so schreibt
auch das neue höchste Wesen seine Offenbarungen nicht selbst
auf, sondern läßt sie durch "wahre Menschen" zu unserer
Kunde gelangen. Nur verräth das neue Wesen eine in der
That geistigere Auffassung als der alte Gott, weil dieser noch
in einer Art von Beleibtheit oder Gestalt vorgestellt wurde, dem
neuen hingegen die ungetrübte Geistigkeit erhalten und ein be¬
sonderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt
ihm auch die Leiblichkeit nicht, die sich sogar noch verführeri¬
scher anläßt, weil sie natürlicher und weltlicher aussieht und in
nichts Geringerem besteht, als in jedem leibhaftigen Menschen
oder auch schlechtweg in der "Menschheit" oder "allen Menschen".
Die Spukhaftigkeit des Geistes in einem Scheinleibe ist dadurch
wieder einmal recht compact und populär geworden.

4*

Menſch“ ein höheres Weſen als ein einzelner Menſch, und
werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die ſich aus ſeinem
Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieſes Begriffes
verehrt und — heilig gehalten werden müſſen? Denn ſollte
man auch manche Wahrheit, welche durch dieſen Begriff mani¬
feſtirt zu ſein ſchien, wieder abſchaffen, ſo zeugte dieß doch
allein für ein Mißverſtändniß von unſerer Seite, ohne im Ge¬
ringſten dem heiligen Begriffe ſelbſt Eintrag zu thun oder den¬
jenigen Wahrheiten, welche „mit Recht“ als Offenbarungen
deſſelben angeſehen werden müſſen, ihre Heiligkeit zu nehmen.
Der Menſch greift über jeden einzelnen Menſchen hinaus und
iſt, obgleich „ſein Weſen“, in der That doch nicht ſein We¬
ſen, welches vielmehr ſo einzig wäre als er, der Einzelne, ſel¬
ber, ſondern ein allgemeines und „höheres“, ja für die Athe¬
iſten „das höchſte Weſen“. Und wie die göttlichen Offenba¬
rungen nicht von Gott eigenhändig niedergeſchrieben, ſondern
durch die „Rüſtzeuge des Herrn“ veröffentlicht wurden, ſo ſchreibt
auch das neue höchſte Weſen ſeine Offenbarungen nicht ſelbſt
auf, ſondern läßt ſie durch „wahre Menſchen“ zu unſerer
Kunde gelangen. Nur verräth das neue Weſen eine in der
That geiſtigere Auffaſſung als der alte Gott, weil dieſer noch
in einer Art von Beleibtheit oder Geſtalt vorgeſtellt wurde, dem
neuen hingegen die ungetrübte Geiſtigkeit erhalten und ein be¬
ſonderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt
ihm auch die Leiblichkeit nicht, die ſich ſogar noch verführeri¬
ſcher anläßt, weil ſie natürlicher und weltlicher ausſieht und in
nichts Geringerem beſteht, als in jedem leibhaftigen Menſchen
oder auch ſchlechtweg in der „Menſchheit“ oder „allen Menſchen“.
Die Spukhaftigkeit des Geiſtes in einem Scheinleibe iſt dadurch
wieder einmal recht compact und populär geworden.

4*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0059" n="51"/>
Men&#x017F;ch&#x201C; ein höheres We&#x017F;en als ein einzelner Men&#x017F;ch, und<lb/>
werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die &#x017F;ich aus &#x017F;einem<lb/>
Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben die&#x017F;es Begriffes<lb/>
verehrt und &#x2014; heilig gehalten werden mü&#x017F;&#x017F;en? Denn &#x017F;ollte<lb/>
man auch manche Wahrheit, welche durch die&#x017F;en Begriff mani¬<lb/>
fe&#x017F;tirt zu &#x017F;ein &#x017F;chien, wieder ab&#x017F;chaffen, &#x017F;o zeugte dieß doch<lb/>
allein für ein Mißver&#x017F;tändniß von un&#x017F;erer Seite, ohne im Ge¬<lb/>
ring&#x017F;ten dem heiligen Begriffe &#x017F;elb&#x017F;t Eintrag zu thun oder den¬<lb/>
jenigen Wahrheiten, welche &#x201E;mit Recht&#x201C; als Offenbarungen<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben ange&#x017F;ehen werden mü&#x017F;&#x017F;en, ihre Heiligkeit zu nehmen.<lb/><hi rendition="#g">Der</hi> Men&#x017F;ch greift über jeden einzelnen Men&#x017F;chen hinaus und<lb/>
i&#x017F;t, obgleich &#x201E;&#x017F;ein We&#x017F;en&#x201C;, in der That doch nicht <hi rendition="#g">&#x017F;ein</hi> We¬<lb/>
&#x017F;en, welches vielmehr &#x017F;o einzig wäre als er, der Einzelne, &#x017F;el¬<lb/>
ber, &#x017F;ondern ein allgemeines und &#x201E;höheres&#x201C;, ja für die Athe¬<lb/>
i&#x017F;ten &#x201E;das höch&#x017F;te We&#x017F;en&#x201C;. Und wie die göttlichen Offenba¬<lb/>
rungen nicht von Gott eigenhändig niederge&#x017F;chrieben, &#x017F;ondern<lb/>
durch die &#x201E;&#x017F;tzeuge des Herrn&#x201C; veröffentlicht wurden, &#x017F;o &#x017F;chreibt<lb/>
auch das neue höch&#x017F;te We&#x017F;en &#x017F;eine Offenbarungen nicht &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
auf, &#x017F;ondern läßt &#x017F;ie durch &#x201E;wahre Men&#x017F;chen&#x201C; zu un&#x017F;erer<lb/>
Kunde gelangen. Nur verräth das neue We&#x017F;en eine in der<lb/>
That gei&#x017F;tigere Auffa&#x017F;&#x017F;ung als der alte Gott, weil die&#x017F;er noch<lb/>
in einer Art von Beleibtheit oder Ge&#x017F;talt vorge&#x017F;tellt wurde, dem<lb/>
neuen hingegen die ungetrübte Gei&#x017F;tigkeit erhalten und ein be¬<lb/>
&#x017F;onderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt<lb/>
ihm auch die Leiblichkeit nicht, die &#x017F;ich &#x017F;ogar noch verführeri¬<lb/>
&#x017F;cher anläßt, weil &#x017F;ie natürlicher und weltlicher aus&#x017F;ieht und in<lb/>
nichts Geringerem be&#x017F;teht, als in jedem leibhaftigen Men&#x017F;chen<lb/>
oder auch &#x017F;chlechtweg in der &#x201E;Men&#x017F;chheit&#x201C; oder &#x201E;allen Men&#x017F;chen&#x201C;.<lb/>
Die Spukhaftigkeit des Gei&#x017F;tes in einem Scheinleibe i&#x017F;t dadurch<lb/>
wieder einmal recht compact und populär geworden.</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="sig">4*<lb/></fw>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0059] Menſch“ ein höheres Weſen als ein einzelner Menſch, und werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die ſich aus ſeinem Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieſes Begriffes verehrt und — heilig gehalten werden müſſen? Denn ſollte man auch manche Wahrheit, welche durch dieſen Begriff mani¬ feſtirt zu ſein ſchien, wieder abſchaffen, ſo zeugte dieß doch allein für ein Mißverſtändniß von unſerer Seite, ohne im Ge¬ ringſten dem heiligen Begriffe ſelbſt Eintrag zu thun oder den¬ jenigen Wahrheiten, welche „mit Recht“ als Offenbarungen deſſelben angeſehen werden müſſen, ihre Heiligkeit zu nehmen. Der Menſch greift über jeden einzelnen Menſchen hinaus und iſt, obgleich „ſein Weſen“, in der That doch nicht ſein We¬ ſen, welches vielmehr ſo einzig wäre als er, der Einzelne, ſel¬ ber, ſondern ein allgemeines und „höheres“, ja für die Athe¬ iſten „das höchſte Weſen“. Und wie die göttlichen Offenba¬ rungen nicht von Gott eigenhändig niedergeſchrieben, ſondern durch die „Rüſtzeuge des Herrn“ veröffentlicht wurden, ſo ſchreibt auch das neue höchſte Weſen ſeine Offenbarungen nicht ſelbſt auf, ſondern läßt ſie durch „wahre Menſchen“ zu unſerer Kunde gelangen. Nur verräth das neue Weſen eine in der That geiſtigere Auffaſſung als der alte Gott, weil dieſer noch in einer Art von Beleibtheit oder Geſtalt vorgeſtellt wurde, dem neuen hingegen die ungetrübte Geiſtigkeit erhalten und ein be¬ ſonderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt ihm auch die Leiblichkeit nicht, die ſich ſogar noch verführeri¬ ſcher anläßt, weil ſie natürlicher und weltlicher ausſieht und in nichts Geringerem beſteht, als in jedem leibhaftigen Menſchen oder auch ſchlechtweg in der „Menſchheit“ oder „allen Menſchen“. Die Spukhaftigkeit des Geiſtes in einem Scheinleibe iſt dadurch wieder einmal recht compact und populär geworden. 4*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/59
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/59>, abgerufen am 19.04.2024.