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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit,
Christlichkeit u. s. w. leiden, und nur frei herumzugehen schei¬
nen, weil das Narrenhaus, worin sie wandeln, einen so wei¬
ten Raum einnimmt? Man taste einem solchen Narren an seine
fixe Idee, und man wird sogleich vor der Heimtücke des Tollen
den Rücken zu hüten haben. Denn auch darin gleichen diese
großen Tollen den kleinen sogenannten Tollen, daß sie heim¬
tückisch über den herfallen, der ihre fixe Idee anrührt. Sie
stehlen ihm erst die Waffe, stehlen ihm das freie Wort, und
dann stürzen sie mit ihren Nägeln über ihn her. Jeder Tag
deckt jetzt die Feigheit und Rachsucht dieser Wahnsinnigen auf,
und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Maßregeln zu. Man
muß die Tagesblätter dieser Periode lesen, und muß den Phi¬
lister sprechen hören, um die gräßliche Ueberzeugung zu gewin¬
nen, daß man mit Narren in ein Haus gesperrt ist. "Du
sollst Deinen Bruder keinen Narren schelten, sonst u. s. w."
Ich aber fürchte den Fluch nicht und sage: meine Brüder sind
Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauses von dem
Wahne besessen ist, er sei Gott der Vater, Kaiser von Japan,
der heilige Geist u. s. w., oder ob ein behaglicher Bürger sich
einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläu¬
biger Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch
u. s. w. zu sein -- das ist beides ein und dieselbe "fixe Idee".
Wer es nie versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein
gläubiger Protestant, kein tugendhafter Mensch u. s. w. zu
sein, der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit u. s. w. ge¬
fangen
und befangen. Gleichwie die Scholastiker nur philo¬
sophirten innerhalb des Glaubens der Kirche, Papst Bene¬
dict XIV. dickleibige Bücher innerhalb des papistischen Aber¬
glaubens schrieb, ohne je diesen Glauben in Zweifel zu ziehen,

Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit, Geſetzlichkeit,
Chriſtlichkeit u. ſ. w. leiden, und nur frei herumzugehen ſchei¬
nen, weil das Narrenhaus, worin ſie wandeln, einen ſo wei¬
ten Raum einnimmt? Man taſte einem ſolchen Narren an ſeine
fixe Idee, und man wird ſogleich vor der Heimtücke des Tollen
den Rücken zu hüten haben. Denn auch darin gleichen dieſe
großen Tollen den kleinen ſogenannten Tollen, daß ſie heim¬
tückiſch über den herfallen, der ihre fixe Idee anrührt. Sie
ſtehlen ihm erſt die Waffe, ſtehlen ihm das freie Wort, und
dann ſtürzen ſie mit ihren Nägeln über ihn her. Jeder Tag
deckt jetzt die Feigheit und Rachſucht dieſer Wahnſinnigen auf,
und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Maßregeln zu. Man
muß die Tagesblätter dieſer Periode leſen, und muß den Phi¬
liſter ſprechen hören, um die gräßliche Ueberzeugung zu gewin¬
nen, daß man mit Narren in ein Haus geſperrt iſt. „Du
ſollſt Deinen Bruder keinen Narren ſchelten, ſonſt u. ſ. w.“
Ich aber fürchte den Fluch nicht und ſage: meine Brüder ſind
Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauſes von dem
Wahne beſeſſen iſt, er ſei Gott der Vater, Kaiſer von Japan,
der heilige Geiſt u. ſ. w., oder ob ein behaglicher Bürger ſich
einbildet, es ſei ſeine Beſtimmung, ein guter Chriſt, ein gläu¬
biger Proteſtant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Menſch
u. ſ. w. zu ſein — das iſt beides ein und dieſelbe „fixe Idee“.
Wer es nie verſucht und gewagt hat, kein guter Chriſt, kein
gläubiger Proteſtant, kein tugendhafter Menſch u. ſ. w. zu
ſein, der iſt in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit u. ſ. w. ge¬
fangen
und befangen. Gleichwie die Scholaſtiker nur philo¬
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[58/0066] Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit, Geſetzlichkeit, Chriſtlichkeit u. ſ. w. leiden, und nur frei herumzugehen ſchei¬ nen, weil das Narrenhaus, worin ſie wandeln, einen ſo wei¬ ten Raum einnimmt? Man taſte einem ſolchen Narren an ſeine fixe Idee, und man wird ſogleich vor der Heimtücke des Tollen den Rücken zu hüten haben. Denn auch darin gleichen dieſe großen Tollen den kleinen ſogenannten Tollen, daß ſie heim¬ tückiſch über den herfallen, der ihre fixe Idee anrührt. Sie ſtehlen ihm erſt die Waffe, ſtehlen ihm das freie Wort, und dann ſtürzen ſie mit ihren Nägeln über ihn her. Jeder Tag deckt jetzt die Feigheit und Rachſucht dieſer Wahnſinnigen auf, und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Maßregeln zu. Man muß die Tagesblätter dieſer Periode leſen, und muß den Phi¬ liſter ſprechen hören, um die gräßliche Ueberzeugung zu gewin¬ nen, daß man mit Narren in ein Haus geſperrt iſt. „Du ſollſt Deinen Bruder keinen Narren ſchelten, ſonſt u. ſ. w.“ Ich aber fürchte den Fluch nicht und ſage: meine Brüder ſind Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauſes von dem Wahne beſeſſen iſt, er ſei Gott der Vater, Kaiſer von Japan, der heilige Geiſt u. ſ. w., oder ob ein behaglicher Bürger ſich einbildet, es ſei ſeine Beſtimmung, ein guter Chriſt, ein gläu¬ biger Proteſtant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Menſch u. ſ. w. zu ſein — das iſt beides ein und dieſelbe „fixe Idee“. Wer es nie verſucht und gewagt hat, kein guter Chriſt, kein gläubiger Proteſtant, kein tugendhafter Menſch u. ſ. w. zu ſein, der iſt in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit u. ſ. w. ge¬ fangen und befangen. Gleichwie die Scholaſtiker nur philo¬ ſophirten innerhalb des Glaubens der Kirche, Papſt Bene¬ dict XIV. dickleibige Bücher innerhalb des papiſtiſchen Aber¬ glaubens ſchrieb, ohne je dieſen Glauben in Zweifel zu ziehen,

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/66>, abgerufen am 28.03.2024.